Kunst als Handlungsfeld / Kapitel 1


(Für ein präzises Zitieren nutzen Sie bitte die Seitenangaben des .pdf-Downloads bzw. die Publikation Kunst als Handlungsfeld, Logos Verlag Berlin, 2006.)

1. Inhaltliche und methodologische Vorbemerkungen

Von der Repräsentationshoheit und den Operationen

Die Arbeiten, über die im Folgenden Auskunft gegeben werden soll, "sind nicht mehr Gemälde, Skulpturen, Installationen - Bezeichnungen, die den Kategorien der Meisterschaft und der Welt der Produkte entsprechen [...]". 1 Sie reproduzieren nicht das Organisationsprinzip des White Cubes und sind nicht dessen Gefüge von Strukturen, Prozessen und Regeln zuordbar, die einem für ihre Aufrechterhaltung notwendigen, spezifischen Betriebssystem 2 aufsitzen und für die Herausbildung einer numerisch einheitlichen, essentiell vollständigen, teleologisch organisierten und ontisch perfekten Kunst oder einer exakt begrenzten, beweglichen, handelbaren und inventarisierbaren Gegenstandskunst als Telos von Kunstproduktion und Kunsttheorie ursächlich sind. Vielmehr ist ein Umbau des Prozesssteuerungsprogramms Kultur zu beobachten, in dessen geeigneter Anwendung Kunstwerke, Riten, Institutionen produziert bzw. als solche rezipiert werden, bei dem es sich somit um eine Verhaltensanleitung für eine sozial verbindliche Gesamtinterpretation des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft handelt (Schmidt) 3 . Erste Beobachtungen, die einleitende Auskünfte zu den zu diskutierenden Konstituenten geben und dabei in Erweiterung der komplexitätsreduzierten Trias Künstler, Kunstwerk und Betrachter produktions-, rezeptions-, intentions- und wirkungsästhetische Überlegungen berücksichtigen, tragen aktuelle Tendenzen in der Kunst vor, die als "Oberflächen, Räume, Dispositive, die sich mit Existenzstrategien verschachteln [...]" 4 , auftreten und damit den Repräsentationsdiskurs von Kunst bis zur Unkenntlichkeit wandeln:

Das Künstlersubjekt verabschiedet sich von seiner singulären Autoren- und Urheberschaft und tritt in einem Verbund mit anderen Autoren, in multiplen und pluralen Autorenschaften z.B. als Kollektiv, Projekt, Alias oder Algorithmus auf. An der Kunstproduktion sind neben dem Kunstproduzenten auch die Rezipienten, nunmehr besser als Partizipienten zu bezeichnen, beteiligt und durch Interaktion als fester Bestandteil in die Prozesse eingebunden. Der distanzierte Betrachter oder passive Konsument, der spätestens mit den werkorientierten, formalästhetischen und -geschichtlichen Studien im Rahmen kunsthistorischer Rezeptionstheorien seit den achtziger Jahren als aktiver Faktor innerhalb der sinnkonstituierenden Konstellation konzipiert ist 5 , transformiert zu einem involvierten Teilnehmer, Akteur und Mitschöpfer, zu einem (inter-) aktiven Nutzer, Forscher oder Explorierenden. Kunstwerke transformieren zu kollaborativen Ereignissen der Teilnehmer, zu temporären und lokalen Versuchsanordnungen und projekt- und prozessorientierten Modellversuchen, die auch die vierte Dimension, die Raumzeit, einbinden. Sie äußern sich statt als symbolische Repräsentationen und wahrnehmbare Materialitäten in Form von Ereignissen, Projekten, Prozessen, Handlungen und Handlungsanweisungen, d.h. als Echtzeitereignisse, die auch auf zwei-, drei- und vierdimensionale Formen bisheriger Kunstproduktion als Ausgangsmaterial zur Komplexbildung zurückgreifen: vom begrenzten zweidimensionalen Bildfeld zur n-dimensionierten "Arena des Handelns" 6 . Das statische, vorab erzeugte Endprodukt wird von einem hybriden, dynamischen Produktionsprozess und wandlungsfähigen Work-in-Progress abgelöst, an dem konstitutiv beispielsweise biologische Prozesse (Genetic Art) oder Computerprogramme und Software (Computer- oder Netzkunst) beteiligt sind. Das geschlossene und überdauernde Werkobjekt wandelt sich zu einem dynamischen System unabhängiger Prozesse. 7 Kunstproduktionen legen konstitutive Prozesse, bestimmende Codes, spezifische Strukturen oder Erwartungen offen, statt diese hinter glatten und uneinsichtigen Oberflächen unbekannt, unsichtbar und/oder unbenannt zu belassen und berücksichtigen insbesondere die Bruchstellen sowie Momente des Zu- und Unfalls; von primärem Interesse ist der Eingriff in jene Prozesse und deren Modifikation. In den künstlerischen Arbeitsweisen zeigen sich strategische Kompetenzüberschneidungen z.B. zu Ingenieuren, Unternehmensberatern oder Sozialarbeitern. Die künstlerischen Arbeiten transformieren zu multi-, trans- und interdisziplinären Verfahren mit thematischen, methodischen und formalen Schnittstellen zu anderen Systemen der Gesellschaft wie der Politik, den Medien oder der Wirtschaft, die ihrerseits als Umweltsystem des Kunstsystems die Kunstproduktionen durch infrastrukturelle Rahmenbedingungen beeinflussen.In der Folge verändern die strukturellen Kopplungen der Systeme die Physiognomien der Kunstproduktionen, nicht zu vernachlässigen, dass es sich um wechselseitige strukturelle Veränderungen handelt. Künstlerische Praktiken überschreiten gesetzte Unterscheidungen und Differenzen und reproduzieren keine stabilen Systemgrenzen. Das eindeutig zu definierende, wiedererkennbare und tradiert zu erwartende Kunstwerk verliert an Schärfe, hebt sich mitunter in seinem theoretischen, physikalischen, sozialen, kognitiven oder raum-zeitlichen Kontext auf und/oder oszilliert zwischen diesen Zuständen und zeigt sich statt mit harten und eindeutigen Distinktionsmarkierungen und geschlossenen Formen vielmehr in Indifferenz, unscharfer oder alternierender Ununterscheidbarkeit oder Unbestimmbarkeit. Zugehörigkeiten werden über thematische Bezüge und Sinnzusammenhänge, z.B. über die Identifizierung von Innovationszonen organisiert. Kunst weist sich aus als Im- und Exportstelle von Konzepten und Methoden, als Verhandlungsraum verfestigter Setzungen und Formationen, als Entwicklungs- und Testraum zukünftiger Phänomene. Bedeutungen werden konstruktivistisch pluralisiert und somit kontingent, Kunstwerke öffnen semantische Spielräume. Coder, Open-Sourcer oder Hacker 8 überwinden unter Einsatz von Strategien der Unterwanderung, Irritation, Entwendung und Umfunktionierung gesetzte Begrenzungen und Beschränkungen, bemächtigen sich der technologischen Komponenten, decodieren die bestimmenden Programme oder nehmen die Programmierung des Quellcodes 9 vor, um mit einer analytischen und kritischen Bearbeitung an der gesellschaftlichen Gestaltung teilzunehmen. Künstler und Kuratoren nutzen wissenschaftliche Forschungsmethoden wie etwa die der Versuchsanordnung und/oder transferieren Visualisierungsmethoden und -techniken aus der Wissenschaft in die Kunst. Mit der Versuchsanordnung ist eine Produktionsform experimenteller Handlung und Verhandlung gewonnen, die die konventionelle Anordnung der Kommunikations- und Interaktionsdimensionen von Kunst um das Moment der Projektion, die diskursive Phase der Konzeption und die intentionale Phase von Forschung und Entwicklung erweitert und eine Zusammenführung von Lern-, Forschungs- und Innovationsprozessen vornimmt. Künstler und Kuratoren inkludieren Elemente, Funktionen, Programme, Codierungen bzw. nutzen Operationen, die vielmehr Zugehörigkeiten zum Wirtschaftssystem indizieren und stellen selbstorganisierende und selbstfinanzierende Kreisläufe her, deren komplexen und dynamischen Zusammenhängen folgekonsequent mit einer Ästhetik der Börse begegnet wird. Gleiches gilt für politische, soziale und rechtliche Systeme. Die digitalen Medien greifen in den Herstellungsprozess künstlerischer Produktionen ein, die nun nicht mehr nur als Bilder verstanden werden können, sondern als Typ der Kognitionsforschung die Produktion von Wissen und/oder von Erfahrung umfassen. Dabei intervenieren die Medien nicht als technologische Apparatur, sondern wesentlich als soziale, politische und kulturelle Maschine.

Gegenwärtige Kunstproduktionen und -praktiken reflektieren - und hier übertrage ich Dirk Baeckers 10 Beobachtung, dass der Systembegriff unser veraltetes Nervensystem reflektiere, jenes sei "so veraltet, wie es unsere Institutionen sind" 11 - den fehlenden Anschluss bisheriger Wahrnehmungstechniken und -praktiken sowie ein Scheitern bisheriger Rezeptions-, Deskriptions- und Analysemodelle reduktionistischer Theorien für aktuelle Phänomene (in) der Kunst. Neuerlich werden, so meine These, die konzeptionellen und konstruktivistischen Kompetenzen künstlerischer Praxis (aber auch der Präsentations- und Distributionsformen) herausgefordert, affektuelle und perzeptive Modelle zu entwickeln, neue Rezeptionssituationen zu stimulieren oder Virtualitäts- und Handlungsfelder zu konstruieren, um diese mit weitreichenden Folgen für eine Überarbeitung "unseres veralteten Nervensystems" zum Einsatz zu bringen, darüber hinaus mittels induktiver Methode durch ästhetische Erfahrung und praktisches Handeln bisherige Theoriebildungen zu korrigieren. Zur Verdeutlichung dieser These greife ich auf sinnvolle Differenzierungen von auratischer Betrachteroberfläche und Aktions- und Handlungsfeld als differente Rezeptionsangebote künstlerischer Produktionen mit Folgekonsequenzen für Affektion und Perzeption des Rezeptionsprozesses vorweg, die auch hinsichtlich der Dimension der Funktionalität und Operationalität Wirksamkeit entfalten 12 und mich zu der Unterscheidung von Repräsentation und Operation führen. Hier zeichnen sich erste Konkretisierungen des Themas der Arbeit und des verwendeten Konzepts ab, welches de-/konstruktivistische, systemisch-funktionale und selbstreferentielle Merkmale trägt, Affektionen und Perzeptionen, aber auch Apperzeptionen einbedenkt und neben der Bildung und Beobachtung von Formen und einer einhergehenden Empirisierung gleichermaßen zu kognitiven Gewinnen führt: Diejenigen Beobachtungsgegenstände, die Kennzeichen von Komplexität und Dynamik tragen, sich Strategien der Unterwanderung, Perturbation, Irritation, Enttäuschung und Umfunktionierung bedienen und eine Ästhetik der Unschärfe, Ununterscheidbarkeit und Unbestimmbarkeit formulieren, bezeichne ich als emergente, komplexe Phänomene, die als den Kanon erweiternde Wahrnehmungsgegenstände und semantische Figuren in Erscheinung treten. In Ergänzung der Konzeptionen von Kunst als Struktur, System, Kommunikation, Konstruktion, Diskurs, Kontext, Simulation oder Spiel (i.S. Wittgensteins 13 ) konzentriere ich meine Ausführungen auf ein Konzept von Kunst als Möglichkeit der Erkundung und des Entwurfs neuer Wahrnehmungs- und Handlungsmuster und eine durch Perzeption und Affektion unterstützte Konstruktion von Konzepten, die gegenwärtig als offene Handlungsfelder in Erscheinung treten. Das isolierte Kunstwerk und sein ebenso einsamer Produzent, der Künstler, - gleichsam Resultate einer Matrix - stellen nur zwei Systemstellen hier in dyadischer Konstellation des komplex angelegten, prozessualen Systems Kunst dar und sind in raum- und zeitspezifischen Analysen von Herrschaftsverhältnissen und Machtverteilungen der beteiligten Faktoren beständig auf ihre Definitionsmacht zu prüfen.

Aus einer Vielzahl aktueller Kunstpraktiken, für die ich Walid Raad und The Atlas Group (New York/Beirut) 14 , Raqs Media Collective (Neu-Delhi) 15 und The Trinity Session (Johannesburg) 16 erwähne - Künstlerkollektive und -initiativen, die in und mit vernetzten Strukturen arbeiten und die Bereiche Kultur, Medien, Politik und Gesellschaft verflechten - wähle ich für meine theoretische Annäherung an künstlerische Handlungsfelder und für deren erste Definition und Systematisierung exemplarisch drei Kunstproduktionen, die als Signifikanten eminenten Transformationen unterzogen wurden und sowohl den künstlerischen als auch den theoretischen Diskurs durchgehend verschieben:

Die künstlerische Praxis der Künstlergruppe WochenKlausur (Österreich) und des Künstler-Ateliers van Lieshout (Niederlande) treten als Katalysatormodule und Entwurf veränderter Existenzdispositive, zum einen als operationale Form, zum anderen als ästhetischer Resonanzraum wirksamer Dispositive 17 und aktiver Inter-/Dependenzen in Erscheinung und sollen hier als Angebote für eine Physiognomie von Komplexität und Dynamik inspirierter Kunstproduktionen gelten, die als künstlerische Strategien und in Anwendung nichtlinearer Techniken 18 in alle Bereiche der Gesellschaft und ihrer Dispositive diffundieren. Beide Praktiken betreiben Kunst als "Arena des Handelns" 19 und transformieren das Konzept des geschlossenen Systems der Moderne mit seinen geschlossenen ästhetischen Werkobjekten (Luhmann) zu einer Ansammlung offener und wandlungsfähiger Handlungsfelder. WochenKlausur nimmt eine generative Kunstpraxis mittels der operationalen Form einer konkreten Intervention vor, die sich in einer prozeduralen Methodik äußert und die sowohl die Handlungsmatrix als auch thematisch als Problemlösungsprozess den Schließungsrahmen vorgibt. Die Form kommt transitiv in differenten Systemen zur Entfaltung, organisiert sich prozessual über das Prinzip einer taktischen Ergebnisorientiertheit und das perturbierte System über eine überraschende Nichtlinearität und evoziert dabei über Strategien der Unterwanderung, positiven Perturbation und Umfunktionierung sowie über Inklusions- und Exklusionsmodi der Organisation weiträumig systemische Interaktionen und Interferenzen. WochenKlausur generiert mit den künstlerischen Interventionen seit 1993 gesellschaftliche Formveränderungen als vorbildhafte Angebote und implementiert funktionstüchtige und anschlussfähige Formen mit Nachhaltigkeitseffekt. AVL bringt Visualisierungsmethoden und -techniken für wirksame, jedoch unsichtbare Dispositive (z.B. des White Cubes oder der niederländischen Gesellschaft) sowie für Inter-/Dependenzen (z.B. zwischen dem Kunstsystem und seinen Umweltsystemen Recht, Politik und Wirtschaft) zur Anwendung. Das Künstler-Atelier stellt insbesondere mit dem komplexen und dynamischen Handlungsfeld AVL-Ville von 2001 - ein operativ geschlossener, selbstreferentiell operierender Freistaat mit dem basalen Strukturprinzip der Selbstorganisation -, seiner fraktalen Formstruktur und den Selbstähnlichkeiten seiner einzelnen Untersysteme visuelles Material für eine Decodierung beteiligter Komponenten und Interrelationen her, nimmt dabei auf dem eigenen Handlungsfeld verschiedene Re-Entries (Spencer Brown) vor und praktiziert eine Ästhetik der Disfunktionalität, die wiederum zu konkreten Irritationen führt. Die künstlerische Handlung des Echtzeitereignisses, welches das nationalstaatlich verfasste Gesellschaftssystem mit einem Ordnungssystem thematischer Zugehörigkeit reformiert, dringt dabei in jedes der Funktionssysteme der Gesellschaft ein und setzt Prozesse deren Entdifferenzierung und Entgrenzung, aber auch Prozesse der Ausdifferenzierung sowohl des Kunstsystems als auch des eigenen Systems AVL-Ville in Gang. Beide künstlerischen Prozesse stehen stellvertretend für inhaltliche und formale Schwerpunktverschiebungen von Werkbegriff und Ausstellungformen, z.B. von einer objektzentrierten Vorstellung vom Kunstwerk zu ephemeren Prozessen und Ereignissen, von permanenten Installationen zu temporären Interventionen, schließlich von der Autonomie der Autorenschaft zu ihrer vielheitlichen Auffächerung in partizipatorische Projekte.

Statt einer kritischen Analyse der Macht- und Kräfteverhältnisse, der herrschaftlichen Apparate oder der hegemonialen Kontrollinstanzen sollen hier die Kunstproduktionen hinsichtlich ihrer Architektur, ihres Konstruktionsprozesses und ihrer definierenden Organisationsprinzipien als eine die Struktur überdauernde Ordnung untersucht werden. Hierzu orientiere ich mich an der von Francisco Varela eingeführten Unterscheidung zwischen der Organisation und der Struktur eines Systems, die insbesondere für die Analyse dynamischer und sozialer Systeme behilflich ist. 20 Währenddessen die Organisation eines Systems für die spezifische Identität verantwortlich ist und daher als dessen längerfristige Ordnung anhält, nimmt die Struktur einen veränderlichen rezeptions-, zeit- und ortsabhängigen Zustand ein, ohne dass die notwendige Organisation des Systems davon beeinflusst wäre: "In der Tat hat jedes System, wenn es erst einmal durch ein bestimmtes Kriterium unterschieden worden ist, zwei komplementäre Aspekte: seine Organisation, die durch die notwendigen Relationen bestimmt ist, die das System definieren; und seine Struktur, die durch die tatsächlichen Relationen zwischen den Komponenten des Systems gebildet wird und das System als solches vervollständigen. Daher bleibt - ex definitio - die Organisation des Systems, wenn es seine Identität ohne Zerfall aufrecht erhält, völlig unverändert; Strukturen jedoch können sich laufend verändern, vorausgesetzt, sie genügen den durch die Organisation gesetzten Rahmenbedingungen." 21 Die 2001 von der Ars Electronica 22 formulierte Frage "Who's doing the art of tomorrow?", "Wer macht die Kunst von morgen?" 23 wird somit um diejenige nach den organisatorischen Prinzipien sowie den beeinflussenden Faktoren und Operationen von Kunst zu erweitern sein: 'How will it be done?' 24 wie auch 'What is doing the art of tomorrow?'. Auf die veränderten Möglichkeitsbedingungen künstlerischer Praxis, wie sie insbesondere die Informations- und Kommunikationstechnologien 25 bestimmen, und auf die in Akkumulation eines breiten Spektrums an Ausdrucksformen neu hervorgebrachten Formen der Kunst ("the thing formerly known as art" 26 ) macht die Ars Electronica von Anbeginn aufmerksam. "Die Kunst von morgen ist die Kunst der Medien, sie ist genauso Musik und Performance wie sie Hardware-Handwerk und Software-Konzept ist. Dafür müssen die Kunsttheorien erst geschrieben werden." 27 Auf die Leittechnologien aktueller Entwicklungen wie Computer und Internet, die digitale Codierung und die mediale Poiesis in Cyberräumen wird in dem Kapitel zur Exploration einer veränderten Matrix am Beispiel des Netzkunst-Prozesses etoy®™ einzugehen sein. Denn vor dem Hintergrund des Prozesses der zunehmenden Verschränkung von kulturellem Austausch, technologischer Entwicklung und künstlerischen Praktiken findet mit etoy (Schweiz/Cyberspace) eine konnektive (d.h. heterogen und dynamisch verknüpfte), vielmehr trajektiv ausgerichtete Aggregation menschlicher und technischer Akteure statt, die in Verschaltung und Rückkopplung stets neue, zum Teil nur partiell intendierte und zu beeinflussende Ereignisse produziert, von netzwerkbasierten, heterarchisch verteilten Dispositiven bestimmt ist und im Zeichen einer maschinischen Ästhetik 28 (Broeckmann) steht. etoy's Kopplungskonstruktion von Realitäts- und Netzkonzepten und gleichzeitige Appropriationspraxis mit identifikatorischer Wendung trägt seit 1994 die Einschreibung einer Umgebung vor, deren implementierten Prinzipien (etwa Dezentralität, Translokalität, Interkonnektivität und Unabgeschlossenheit) und technologische Struktur ihre Wirkung i.S. einer technisierten Ästhetik entfalten: "Wir müssen unsere Matrix neu definieren und zu diesem Zweck neu erkunden." 29

In zeitlichem Anschluss an die Entdeckung der Außenseite und die konzeptuellen und kontextsensitiven Untersuchungen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren (Konzept-Kunst) und an die intensiven Kontextanalysen der neunziger Jahre (Kontext-Kunst) sind wesentliche Kontextveränderungen etwa in Form technischer Umgebungen zu diskutieren, die von veränderten Codierungen bestimmt in Wirksamkeit ihrer Architektur und Prinzipien die Organisation von Kunstproduktionen (auch die der Kunstrezeption, -präsentation und -distribution) entscheidend beeinflussen. Mit Einsatz und Anwendung der Technologien 30 sind umfangreiche Transformationen in allen Funktionssystemen der Gesellschaft angestoßen und in der Folge tiefgreifende Konsequenzen zu registrieren, die nicht nur neue Möglichkeiten individualisierten Handelns beobachten lassen - neue Handlungsräume, Handlungsmodalitäten und Handlungsformen, zu denen sich wiederum ethisch-moralische Grundlegungsfragen einstellen -; vielmehr sind Subjektivierungsprozesse, Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse überarbeitend in Angriff genommen worden und werden epistemologische Verschiebungen, beispielsweise anhand der Begriffe von Arbeit, Eigentum, Geschlecht, auch von Politik und Gesellschaft deutlich. Ich behaupte und führe dazu aus, dass insbesondere das Netz (als Mitte, Mittel, Vermittlung und Vermitteltes 31 ) und eine auf Netzkonditionen aufsetzende Kunst, die über den digitalen Code, über Inhalts- und Gemeinschaftsregeln des Internets hinausgeht und offene und gestaltbare Handlungsfelder aufspannt, in denen sich konkrete und medienspezifische Aktions-, Kooperations- und Handlungsformen herausbilden, aktuell als diejenige katalytische Kraft eingeschätzt werden kann, die kulturelle, soziale und ökonomische Systeme beeinflusst und deren Räume durchkreuzt, materielle, technologische, psychologische Entgrenzungen vornimmt und umfangreiche Entdualisierungsprozesse in Gang setzt. Diese kollaborativen Handlungsräume, die als Terrain der Interaktionen von Menschen und Maschinen sowie deren In- und Outputs interessieren, stellen m.E. eine weit größere Herausforderung an das Kunst- und Gesellschaftssystem dar als die elektronischen Medien zuvor. 32 Die zu diskutierenden hybriden Formen einer vernetzten und vernetzenden Kunstpraxis erweitern das Netzkunstkonzept über das Internet hinaus, wirken auf die gesellschaftlichen Prozesse in Form von (Netzwerk-) Interventionen ein und generieren die bestimmenden Codes aus Rekombinationen und Neuformationen z.B. sozialer, wirtschaftlicher und digitaler Codes. Insbesondere die Bedeutungen von Multi- und Interdisziplinarität, von Aktivität und Interaktivität sind eng an die Medientechnologien als Leitmotiv und intervenierende soziale, politische und kulturelle Maschine gebunden.

Das Internet als Ort, Medium und Material bestätigt somit nicht nur eine Erweiterung der Möglichkeiten von Kunstproduktion, -präsentation und -rezeption, sondern vornehmlich eine Praxis, die unterschiedliche Kulturtechniken zu entwickeln und anzuwenden in der Lage ist, die zuvorderst eine vernetzte Kunstpraxis auf der Grundlage konnektionistischer Überlegungen verstärkt, wenn nicht sogar hervorbringt. Als Effekt der Digitalisierung bringt die heterogene Kombination von Bild, Ton und Text multimediale Werke und die Technik des Samplings hervor, die den Werkbegriff und die Aufteilung künstlerischer Gattungen unterwandern und elementar urheberrechtliche Auswirkungen nach sich ziehen 33 . Der Computer zeigt sich als idealer Ort für die Kombination und Hybridisierung verschiedener Techniken. Die Regeln der Software und die Technik des Interface verlangen - auch wenn sie den Handlungsrahmen vorgeben - dem Nutzer (User) Interaktion ab und tragen zur Herausbildung neuer Partizipations- und Kollaborationsmodelle bei. Unbeantwortet verbleibt an dieser Stelle die Frage nach der Existenz eines Unterschieds zwischen Code und Oberfläche oder ob lediglich zwischen den Freiheitsgraden bzw. der Kontrolle des Users, d.h. nach der Elaboriert- bzw. Restringiertheit des Codes zu differenzieren ist. 34 In rezeptionsorientierter Betrachtung entstehen reaktive, interaktive, partizipative und kollaborative Kunstwerke, die den Rezipienten u.a. zum Schreiben, Sprechen, Imaginieren, Wahrnehmen und Bewegen bringen (Abb. 3). Darüber hinaus zeichnet sich ein veränderter Kontextbegriff ab, der nicht mehr an die Kontextspezifität der Kunst des 20. Jahrhunderts anbindet und einem relativ stabilen Kontiguitätsverhältnis aufsetzt, sondern - der n-dimensionalen Netzlogik unterworfen - einer sofortigen Veränderbarkeit ausgesetzt ist. Lev Manovich 35 führt zum Verlinken als dem Prinzip der neuen Medien aus 36 ; Gilles Deleuze und Félix Guattari kennzeichnen 1976 in ihrem Essay 'Rhizome. Introduction', in dem sie sich für eine vernetzende, nichtlineare und heterarchische Textstruktur aussprechen, diese neue Qualität mit den Prinzipien der Konnexion, der Heterogenität und des asignifikanten Bruchs (die neben weiteren die Merkmale des Rhizoms darstellen) und führen hinsichtlich des Prinzips der Vielheit aus, dass ein wachsendes Rhizom aufgrund der erhöhten Kombinationsoptionen der heterogenen Konnexionen ständigen Veränderungen ausgesetzt ist. 37 Das Rhizom kann im Folgenden als metaphorisches Form- und Kennzeichenäquivalent Wahrnehmungs- und Beschreibungszwecken dienen und zu der kausalen Notwendigkeit überleiten, sich von der Raummetapher für das Netz zu verabschieden, da hiermit Vorstellungen von Distanzen und Kontinuitäten, beispielsweise von Aktion und Reaktion, aber auch von scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen wie Virtualität, Fiktionalität und Simulation einerseits und Realität, Wirklichkeit und Wahrheit andererseits mitformuliert werden, die im Netz außer Kraft gesetzt sind: "[...] aus Fact und Fiction wird Faction." 38 Wirklichkeits- und Kunstbegriff sind einer Wandlung ausgesetzt.

Die Beispiele künstlerischer Praxis, die trotz Aktivierung konstitutiver kunstsysteminterner Komponenten, Konstrukteure und Selektoren zum Teil uneindeutig als Kunstwerke indiziert sind, statt mit wahrnehmbaren Materialitäten mit Interaktionen auftreten und jeweils mit der Technik der Vernetzung und Verschränkung arbeiten, nutzen - vor systemtheoretischem Hintergrund betrachtet - zur Kontaktierung der einzelnen Systeme Inklusionen und Exklusionen (WochenKlausur), strukturelle Kopplungen, Dependenzen und Interdependenzen (AVL-Ville) sowie Perturbationen und Irritationen (etoy). Statt das System und dessen Ordnung seiner Operationen durch Rückkopplung, Rekursion oder Iteration zu bestätigen, zu sichern und zu stärken, d.h. zu reproduzieren, mobilisieren die Praktiken unter Einsatz von Strategien der Brechung, Verwirrung, Störung und Disfunktionalisierung eine Bewegung, die ihrerseits durch Iterationen aufgegriffen wird, und damit als "Virus der Differenz mit enzymatisch katalytischer Kraft" 39 funktioniert. "Denn nur an der Differenz scheiden sich die Iterationen von den Perturbationen." 40 Folglich ist eine Kunst zu theoretisieren, die sich als künstlerische Praxis in Anwendung differenter Strategien existierender Formbildungen annimmt (z.B. Funktionssysteme der Gesellschaft bei WochenKlausur, Dispositive und Organisationsprinzipien bei AVL-Ville, Matrizen bei etoy), formale wie auch inhaltliche Re- und Transformationen vornimmt und darüber hinaus veränderte Existenzdispositive erkundet, entwirft und herstellt. Es handelt sich bei den vorgetragenen Praktiken somit weniger um repräsentierende Visualisierungen als vielmehr um operative Eingriffe in die Protokolle der gesellschaftlichen Prozesse - eine getroffene Unterscheidung, die einschließlich der intendierten Entschlüsselung des ordnungskonstitutiven Codes, die die Ebene des Darstellbaren zur Ebene der Anwesenheit wandelt, mit dem Prinzip der Dekalkomonie des Rhizoms korreliert: Deleuze/Guattari führen in ihrem Essay zum Unterschied zwischen einer repräsentierenden Kopie und einer performierenden Karte aus, dass das Rhizom demnach nicht als Kopie reproduziert, sondern als Karte konstruiert wird und "gar dem Experiment als Eingriff in die Wirklichkeit zugewandt ist". 41

Auf der Grundlage dieser Differenz schlage ich, basierend auf den von mir beobachteten empirischen Indizien aktueller künstlerischer Produktionen, eine Variante der Kunstdefinition vor, die keine Statuierung, schon gar nicht eine ontologische Statuierung von Kunst, sondern vielmehr deren produktions-, rezeptions-, intentions- und wirkungsästhetische Dimensionen bezeichnet und die u.a. die Aspekte Operativität, Prozessualität, Dynamik, Un(ab)geschlossenheit, Inter-/Aktivität und Experimentalität vorweist. Diese Definition entspricht in idealer Weise den Praktiken zeitgenössischer Kunst, indem sie statt der bis dahin das Feld der Kunst begrenzenden Objekte Zeit und Struktur als Material nutzen und Existenzdispositive schaffen. Die ausgewählten Praktiken tragen auf der Grundlage einer deontologisierten Beobachtung eine Operation des Verschiebens vor, die einer systemischen, komplexen, raum-zeitlichen und operativen Betrachtung und Wahrnehmung von Kunst aufsetzt und darauf ausgerichtet ist, Verfestigungen und Setzungen beweglich zu machen, bestehende Verhältnisse überraschend zu stören, dabei Variationen oder Ableitungen zu formen. Insofern dienen die ausgewählten Beispiele künstlerischer Praxis weniger der punktuellen Untersuchung eines Status quo als vielmehr einer Dynamik, die in der Kunst eine Transformationsfunktion und eine katalytische Kraft vorfindet und beispielhaft deren (kommunikationstheoretisch betrachteten) Erschließungsdiskurs vorträgt. Dessen Aufgabe besteht im Gegensatz zum Argumentations- und zum Grenzdiskurs darin, den von gewissen Regeln eingegrenzten kommunikativen Raum, dessen Kontext und dessen Situationsdefinition zu durchbrechen und eine Transformation von Kriterien vorzunehmen (Krieger). Nicolas Bourriaud 42 nimmt (in seiner Analyse des Werks Félix Guattaris) zum funktionalen Sachverhalt eine signifikante Metaphorisierung vor: Das ästhetische Paradigma sei als Kritik des szientistischen Paradigmas dazu berufen, "alle Register des Diskurses zu verseuchen, in alle Wissensfelder das Gift der schöpferischen Ungewissheit und der deliranten Erfindung einzuimpfen." 43 Die Gesamtheit aller Wissenschaften und Techniken könne, ausgehend von einem ästhetischen Paradigma, neu modelliert werden. Stefan Weber 44 beobachtet eine insbesondere durch die Netzmedialisierung ausgelöste Transformationsdynamik und kennzeichnet das "Netz als Turbo-Transformator" 45 ; ich füge seinem aus dieser Beobachtung extrahierten Vorschlag, eine Wissenschaftsdisziplin für Wandel, Zukunft und Transformation unter dem Namen 'Transformatik' zu etablieren, hinzu, aufgrund der hier extrahierten Formations- und Transformationsdynamik von Kunst ein erstes interdisziplinäres Bündnis einzugehen.


Theoretische Vorentscheidungen

Statt eines realistisch-ontologischen Zugriffs auf die Kunst und deren Wesen ist in der Rezeption aktuell ein konstruktivistisch-epistemologischer Ansatz zu beobachten, wenn nicht mehr gefragt wird, was Kunst ist 46 oder wozu Kunst ist 47 , sondern, wer oder was Kunst wie, warum oder wann "als 'Kunst' erzeugt" 48 . Der Kunst-Begriff wird von einem essentialistischen oder substantialistischen Verständnis gelöst und beobachterdependent, relativ auf einen operativen Zusammenhang und kontingent konzipiert. Mit Niklas Luhmann 49 : "Eine konstruktivistische Erkenntnistheorie ersetzt [...] einerseits Einheit durch Unterscheidung in ihren Produkten: Identität durch Differenz. Sie ersetzt andererseits Zielorientierung durch Problemorientierung. Sie orientiert das System nicht an einem guten Ende wie einem nützlichen Erwerb, sondern an der eigenen Autokalypse, also an sich selbst. 50 Vorab bleibt zu klären, mit welchen Theorieelementen und -versatzstücken die künstlerischen Praktiken empirisch plausibel, theoretisch stringent und operationalisierbar beobachtbar sind und welche theoretischen Anschlüsse vorgenommen werden können. Hiermit findet Wolfgang Kemps 51 Hinweis Berücksichtigung, dass sich erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Probleme - offenkundige Inkonsequenzen, verzweifelte ontologische Tricks, falsche Grundoperationen und Oppositionen - mit einem besseren Methodenangebot überwinden ließen: Denn unser eigentliches Erbe sei, so Kemp, eine "ganze Wertelehre" 52 , die sich in den praktizierten Grenzziehungen einer Kunsttheorie und Kunstgeschichte zeige, die ihren Erkenntnisgewinn mittels der Operationen der reversiblen sowie der irreversiblen Aufhebung von Kontexten generiert und diesen von Beginn an strukturell mit der zerstörenden Einwirkung in jene Kontexte verbindet53 . Hier agiere "eine Haltung, mehr noch eine Praxis, mit tiefgreifenden Folgen für die Untersuchungsobjekte"54 .

Der hier verwendete Kunstbegriff hält sich an der theoretischen Schnittstelle von System- und Komplexitätstheorie auf und trägt Kennzeichen nichtlinearer Dynamik, differenziert sich unter Berücksichtigung empirischer Indizien und durch Einbindung netztheoretischer Elemente, insbesondere konnektionistischer Möglichkeitsbedingungen aus und ist von folgenden Überlegungen getragen: Er ist dynamisch, prozessual und ereignishaft und nicht konstant, punktuell oder starr konzipiert, er ist oszillierend, expandierbar und mitunter nicht teleologisch angelegt, er ist nonlinear und empirisch offen entworfen, er bedenkt Anschlussfähigkeit und ist auf Operativität ausgerichtet, er funktioniert transitiv und bewirkt sowohl Ausdifferenzierungen als auch Entdifferenzierungen und Entgrenzungen, er schließt Emergenz und Kontingenz ein. In der Konsequenz kann daher von einem systemorientierten, prozessualisierten und empirisierten Kunstbegriff die Rede sein, der in seiner konstruktivistischen Verfasstheit den Blick von den Objekten und ihren Grenzen 55 auf relationale und interaktive Dimensionen zwischen den beteiligten Komponenten sowie auf die funktionsfähigen Operationen, Organisationsprinzipien und Codierungen leitet 56 , gleichsam die beteiligten Faktoren nicht vernachlässigt und entgegen einer identitätstheoretischen Politik die Zusammenhänge stärkt 57 .

Die Systemtheorie 58 interessiert zunächst aufgrund ihrer Verschiebung von der sog. Was- zur Wie-Frage und führt mit diesem methodologischen Wechsel zugleich die Beobachtung zweiter Ordnung 59 ein, die nunmehr nicht mehr unmittelbar Zeichen, Dinge, Ereignisse oder Bewegungen beobachtet, sondern in zweiter Ordnung die Beobachtung von Beobachtungen beobachtet. Der Beobachter zweiter Ordnung verfügt daher über Möglichkeiten der Selbst- und der Fremdbeobachtung und tendiert dazu, Latenzen zu Lasten von Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten in Kontingenzen zu erweitern 60 . "[D]ie Welt des Möglichen ist eine Erfindung des Beobachters zweiter Ordnung, die für den Beobachter erster Ordnung notwendig latent bleibt." 61 Aus der Verwendung des Konzeptes zweiter Ordnung ergeben sich zwei wesentliche Folgekonsequenzen: die Kritik am Prinzip der Kausalität und die Übernahme des Funktionsbegriffs, der wiederum selbstreferentielle und nichtlineare Eigenschaften beinhaltet. Mit der Systemtheorie ist eine Theorie des Geschehens, des Prozesses und der Operativität gewonnen, da ihr zufolge (vergleichbar der prozeduralen Erfindung der Interventionen von WochenKlausur) nur in der Abfolge und Verkettung der einzelnen Operationen eine Form gewonnen ist, die sich nachzeichnen und als System beschreiben lässt: "Das System ist eine Operation, der es gelingt, an eine von ihr zur vorherigen Operation gemachte Operation so anzuschließen, dass weitere Operationen möglich werden." 62 Es besteht einzig aus Operationen und existiert lediglich durch seine aneinander anschließenden und kontinuierlich operativen Vollzüge. "Die Operation selbst ist das, was ist, und es gibt nichts als Operationen, um von einer Operation zu einer nächsten zu kommen. Einem solchen Operationsverständnis liegt nicht mehr eine Ontologie zugrunde, die zwischen dem, was ist, und dem, was man braucht, um es zu denken (und dann auch: zu bewegen), unterscheidet." 63 Somit stellt die Systemtheorie eine wissenschaftstheoretische Verschiebung der Forschungen in das Geschehen der Ereignisse, nicht des Objekts, zu Operationen, Funktionsmechanismen und Prozesssteuerung der seligierten und relationierten Einzelelemente als Bestandteile eines Systems bereit und trägt ihrerseits zu der zu beobachtenden, überdies von der Kunstrezeption kritisierten Deontologisierung bei 64 , da in der prozessualen Verfasstheit keine materialausgewiesenen Gegenstände mehr verhandelbar sind. "Ohne den Systembegriff macht es keinen Sinn, von Teilen, Elementen und Operationen zu sprechen [...]." 65

An der Systemtheorie orientierte Folgeuntersuchungen forschen zur Quantität, Qualität und Intensität der (je nach Beobachterstandort und Beobachtungszeitraum sich verändernden) Relationen interdependenter, nicht von Kausalität gesteuerter (Einzel-) Elemente, die mit dem die Vernetzungsdichte messenden Konnektivitäts-Koeffizienten ermittelbar sind. Weber ersetzt die systemtheoretische Leitunterscheidung System/Umwelt durch die Leitunterscheidung Knoten (als Verdichtungen von Fäden) und Netze (als Verdichtungen von Knoten) und anerkennt als basale Elemente nicht die Ereignis-Elemente von Systemen, sondern die Relationen. 66 Im weiteren Verlauf der Arbeit werden systemtheoretische Überlegungen in anwendungstheoretischer Nutzung für die drei Beobachtungsebenen Kunstwerk, Kunstsystem und Gesellschaft zur Anwendung gebracht und werden diese aufgrund empirischer Indizien um Elemente einer Netztheorie zu erweitern sein müssen 67 : Jenes künstlerische Handeln ist gleichwohl in der Form einer vernetzten Kunstpraxis als eine vierte Beobachtungsebene zu benennen, die wirkungsästhetisch temporär Systeme auf Systembildung drängt oder sie zu Netzwerken entgrenzt 68 . Deren Form und Codierung sind oszillierend, dynamisch, diversifikatorisch, hybrid, tragen wesentlich zur Variation der System-Nomenklatur Luhmanns einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft mit autopoietischen Systemen und dem Prinzip der operativen Schließung durch die vorgängige Leitdifferenz in Form einer binären Codierung bei (Abb. 4) - eine Theorie, die sich offenbar eher als eine Theorie der Moderne zur Beschreibung früherer Zustände (in) der Kunst eignet - und bewirken den Umbau des alles bestimmenden Kulturprogramms 69 . Neben Stabilisierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen z.B. des Kunstsystems (bei WochenKlausur durch in Gang gesetzte Identitätsdebatten, bei AVL durch die Klärung von Außenbeziehungen und der Visualisierung von Steuerungen zwischen den Teilsystemen zu Ungunsten des Kunstsystems, bei etoy durch die Einbeziehung, vorangehend die Sichtbarmachung des monetären Prinzips) finden als Resultat gegenwärtiger Kunstpraktiken ebenso Entdifferenzierungsprozesse existierender Formationen statt, die ich mit der Form der Operation des Verschiebens - eine deontologisch verfasste Definition von Kunst, die ihrerseits einer Theorie aneinander anschließender und kontinuierlich operativer Prozesse Rechnung trägt - zusammenzufassen vorschlage. Die Beobachtungen zur Kunst als Handlungsfeld sind ihrerseits mit der vorab entschiedenen theoretischen Systemorientierung verschränkt, die wiederum in Wirksamkeit der differenztheoretischen Umstellung ihres Formbegriffs 70 identitätstheoretische Kunst-Konzepte verabschiedet und Folgekonsequenzen hinsichtlich tragender Kunst-Begriffe wie Kunstwerk, Künstler und Bedeutung und damit der orientierenden kulturellen Programmierungen nach sich zieht.

Mit der Anwendung von Komplexitätsüberlegungen ist die Möglichkeit einer zunächst quantitativen Anhebung der Systembestandteile 71 und der durch Relationen zu Prozessen verketteten Einzelereignisse gewonnen, die ihrerseits ein notwendig geregeltes Verhältnis aufweisen. Von Komplexität eines Systems ist dann die Rede, wenn ein System erstens eine große Anzahl von Elementen aufweist, die zweitens in einer großen Anzahl von Beziehungen zueinander stehen können, die drittens verschiedenartig ausfallen können und deren Zahl und Verschiedenartigkeit viertens zeitlichen Schwankungen unterworfen sind. 72 Ein System konstituiert sich durch die Relationen seiner Elemente untereinander, die sowohl quantitativ errechnet werden, als auch eine Qualität aufgrund ihrer Inanspruchnahme aufweisen können. Qualität ist nur durch Selektion möglich, aber Selektion ist notwendig für Komplexität. Denn mit Zunahme der Zahl der Elemente eines Systems nehmen die potentiellen Relationen zwischen ihnen überproportional zu, kann auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazitäten der Elemente ab einer bestimmten Größenordnung nicht mehr jedes Element mit jedem in Beziehung gesetzt und können deshalb Relationen nur noch selektiv hergestellt werden. Komplexität bedeutet demnach Zwang zur Selektion, d.h. erfordert die Notwendigkeit, eine Auswahl aus der Vielzahl der Elemente zu treffen, die nicht mehr mit allen anderen Elementen durch verschiedene Typen von Beziehungen verknüpft werden können. Jede Selektion könnte demnach auch anders ausfallen und ist daher kontingent. Und Kontingenz heißt Risiko. 73 Bis hierhin wurde Komplexität nicht als Maß für Ordnung, sondern als Maß für Unordnung und als Problem, als unbekannte und unsichere Größe, als Angstfaktor mit hohem Risiko gehandhabt 74 ; mit der weitreichenden Folge ihrer Vereinfachung: In der Kunstgeschichte wurde Komplexität auf Einfachheit reduziert und das große, einsame, isolierte und segmentierte Einzelwerk als Größe kunstgeschichtlicher Betrachtung geboren. 75 Derweil blieb unbeachtet, dass Reduktion Komplexität nicht beherrscht, sondern vielmehr die erste Bedingung ihrer Steigerbarkeit ist. 76 Die zu diskutierenden Handlungsfelder verdeutlichen, dass ein vermeintlich linearer Nexus zunehmend einer mehrdimensionalen Verarbeitung weicht, die der Terminus der Komplexität auffängt. Statt klarer Ursache-Wirkung-Beziehungen existieren vielmehr negative und positive Rückkopplungen, enge und lose Verknüpfungen, Reaktivitäten und Kontextbrüche durch unterschiedliche Systemebenen, Nonlinearitäten und Kombinationswirkungen, reversible und irreversible Prozessverläufe, Fluktuationen und emergente Gesamteigenschaften 77 . Ursächlich für die Komplexität von Strukturen ist die Interaktion einer Vielzahl unterschiedlicher und weitgehend voneinander unabhängiger Variablen. Die Komplexitätsforschung bezieht sich demnach nicht auf einige wenige Einzelaspekte, sondern auf wechselwirkende und aufeinander einwirkende Problemstellungen, nicht auf eindeutige Kausalketten und Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, sondern auf sich gegenseitig durchdringende und miteinander in Wechselwirkung stehende Komponenten. 78 Folglich distanziere ich mich von dem Vorschlag Luhmanns des Einkomponentenmodells von System mit dem alleinigen Komponententyp Kommunikation und schlage zunächst vor, das Kunstsystem als ein komplex und prozessual angelegtes Mehrkomponenten- und Mehrebenensystem anzulegen, dessen Einzelkomponenten und deren Ordnung je nach Beobachterstandort und Beobachtungszeitraum zu bestimmen sind und dessen Schließung sich temporär über Sinnbildungsmechanismen 79 regelt.

In Anwendung komplexitätstheoretischer Ansätze, die nicht bisherig praktizierte Grenzziehungen nachverfolgen, nicht mittels einer Technik der Simplifizierung und Reduzierung agieren 80 und nicht mit festen Identitäten und vereinheitlichenden Modellen Komplexität verengen, ergeben sich gleichermaßen abweichende und variierte Forschungs- und Beobachtungsgegenstände. Baecker fordert bereits 1994, "Komplexität nicht, wie üblich, als Problem, sondern als Lösung" zu betrachten 81 . Als Gründe führt er auf, dass erstens bei komplexen ("überraschenden, unberechenbaren, intelligent feindseligen, mangelhaft kommunizierbaren" 82 ) Sachverhalten ein stabiles und sogar berechenbares Verhalten prognostizierbar ist, zweitens komplexe Systeme aufgrund ihrer Fehlerfreundlichkeit nur partiell auf Störungen reagieren und diese teilweise abfangen können und drittens Komplexität auch in Systemen zweiter Ordnung auftritt, in denen zusätzlich zum Handeln und Entscheiden das Beobachten des Handelns und des Entscheidens tritt, d.h. die einhergehenden blinden Flecke im Auge behalten werden. 83 Baeckers Schlussfolgerung ist eine überraschend einfache: "Wenn man möglichst kompliziert an die Sachen heranzugehen versucht, hat man schließlich immer mehr Lösungen zur Hand, als sich Probleme stellen. Das heißt, man kann wählen. Und man verfällt, wenn man Glück hat, auf kleine Lösungen, die manchmal mehr bewegen als die großen und die für andere immer ein Rätsel bleiben." 84 Klaus Mainzer 85 hierzu: "Wer [...] aus Angst vor Chaos im Nichtstun verharrt, wird von der Eigendynamik komplexer Systeme überrollt. Am Rande des Chaos ist zwar Sensibilität gefragt, aber auch Mut, Kraft und Kreativität zur Problemlösung." 86

Die vorliegende Arbeit fühlt sich somit den Physiognomien und Gesetzmäßigkeiten höher komplexer Sachverhalte und methodisch einer Komplexität und Nichtlinearität verpflichtet, statt sich den Postulaten von Einfachheit und Reduzierung zu verschreiben und erkundet Komplexität und Nichtlinearität jenseits der bisher einzig veranschlagten Visualisierung als Mandelbrot-Mengen 87 (Abb. 5). "Es geht [...] um die Gewöhnung an ein anderes Denken" 88 , um "andere Denkgewohnheiten" 89 , die nicht erneut den Fehler der bisherigen Kunstgeschichte begehen, ihren "komplexen Systemen mit dem falschen Instrumentarium bzw. mit einer zu engen Gegenstandsbestimmung" 90 zu begegnen. Auf die von Komplexität, insbesondere von deren Unabgeschlossenheit inspirierten Kunstproduktionen weist Philip Galanter in seinen Arbeiten hin 91 , für die er Aspekte der Komplexitätsforschung als Inhalt und Produktionskontext sowie als Kontext einer spezifischen Kunsttheorie nutzt. 92 Galanter bezeichnet jene an Komplexität angelehnten Phänomene als Complexity Art - seine hieraus extrahierte Theorie der Generative Art findet später mein detailliertes Interesse - und führt hierzu aus: "Chaos, fractals, regularities, emergence and other features of the complexity sciences have ramifications for the arts. However we don't view complexity as the basis for an art movement or style. Part of the appeal of complexity science to artists is that it offers an open-ended model for making art. The artistic response to complexity spans a number of media, including painting, prints, photography, drawing, and even living ants. There is also sculpture, video, installation, mixed media, and computer screen-based work. Complexity art is a matter of content, not complicated technique." 93

Bei künstlerischen Handlungsfeldern - ich versuche eine erste Zusammenfassung - kann es sich um offene, auf Komplexität und Komplexitätsentfaltung ausgerichtete Systeme (Abb. 6 94 ) mit nichtlinearer Eigendynamik handeln, die in regem Austausch mit ihrer Umwelt stehen, auf diese Weise zur Strukturbildung fähig sind und - mit Operativität und Anschlussfähigkeit ausgestattet - eine Vielfalt komplexer Prozesse generieren können. Handlungsfelder treten mit wandlungsfähiger Form sowie mit vielfältiger Codierung und Bedeutungsproduktion auf, organisieren ihre Zugehörigkeiten über empirische Kriterien, thematische Bezüge und Sinnzusammenhänge und sind stets individuierend zu betrachten. In Orientierung an Vorstellungen struktureller wie dynamischer Komplexität und Interaktion und in theoretischer Nähe zu lebenden 95 und sozialen Systemen kann diese komplexe, dynamische Form i.S. eines neuen Wahrnehmungs- und Verhandlungsgegenstands, die zum Teil mit einer Gegen-/Dynamik gesetzte Unterscheidungen überschreitet, zunächst an der Definition des sozialen Systems orientiert werden: "Soziale Systeme bestehen aus faktischen Handlungen verschiedener Personen, die durch ihren Sinn aufeinander bezogen und durch diesen Sinnzusammenhang abgrenzbar sind gegenüber einer Umwelt, die nicht zum System gehört. Soziale Systeme sind also empirisch aufweisbare Handlungszusammenhänge, nicht nur Muster, Typen, Normenkomplexe [...]." 96 Die zu registrierenden heteropoietischen, entdifferenzierenden und fremdorganisierenden Tendenzen verlangen jedoch eine Korrektur und/oder Revision der systemtheoretischen Nomenklatur. Denn offenbar praktizieren Handlungsfelder, mit zirkulären Kausalitäten, mit Rückkopplungs-, aber auch mit Netzwerkkausalitäten 97 operierend, mittels einer vernetzten und vernetzenden Kunstpraxis temporär neben Ausdifferenzierungen auch Entgrenzungen bislang formulierter Systeme, nehmen daher im Mindesten Formveränderungen vor und agieren operativ verschiebend. Bei Handlungsfeldern kann es sich demnach auch um temporäre konnektive Anordnungen jenseits eines entropisch passiven Gleichgewichtszustands handeln, die heterogene und kooperierende Einzelelemente, Handlungen und Wahrnehmungen, ebenso technische Funktionssysteme im Zeichen einer maschinischen Ästhetik vernetzen und verschalten und in Rückkopplungssystemen stetig neue Ereignisse und Formen generieren. Diese Form von Handlungsfeldern ist somit vielmehr an netz- als an systemtheoretischen Überlegungen zu orientieren. (Abb. 4) Grundsätzlich gilt: Operativität und Anschlussfähigkeit (Abb. 7) sind für Handlungsfelder, deren Produktion, Rezeption, Intention und Wirkung durch komplexe Faktoren und Komponentenkonstellationen bestimmt sind, nicht Option oder Folge, sondern vielmehr Notwendigkeitsbedingung; Handlungsfelder sind keine leeren Signifikanten, sondern existieren nur in ihrer Performierung.

Vor dem Hintergrund des zu explorierenden konnektionistischen Prinzips als Möglichkeitsbedingung zeigen sich die Formen als Mixed Media in komplexen Komposita von Inter-, Multi-, Trans- und Hypermedialität. WochenKlausur generiert durch systemische Verschaltungen, Interaktionen und Interferenzen und mittels eines Cross-Overs aus Handlungen, Diskursen, Institutionen, spezifischen Inhalten, Politiken und Dienstleistungen eine emergente, intermediale und prozesshafte Form, mit der Folge sowohl einer grundlegenden Umdeutung von Materialitätskategorien als auch der prüfenden Überarbeitung des Kunst-Begriffs. Fremdaufenthalt und heteropoietische Bestrebungen führen zu Kritiken, Identitäts- und Programmdebatten innerhalb des künstlerischen Feldes sowie zu dem Vorwurf eines nur geringen Autopoiesis-Koeffizienten 98 als Beitrag für den Erhalt des Kunstsystems, so dass sich hier kulturprogrammatisch akzeptierte Grenzen der Definition künstlerischer Aktivität sowie Möglichkeiten für Grenzwertuntersuchungen offenbaren. AVL nimmt die transmediale Kopplung autopoietischer Systemelemente und die Verschaltung sozialer, politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und künstlerischer Module, folglich eine Verschränkung von Gattungen, Materialien und Medien vor, leistet deren intermediale Verschmelzung und transformiert im Ergebnis die Gesellschaft durch appropriierende Verfahren zu einer ästhetischen Form; nicht ohne dass auch hier die Rezeption aus Kunst- und Gesellschaftssystem den Produktionsablauf und das Produktionsethos, insbesondere die Turbulenzen und das aktive Chaos - bei dessen Produktion und selbstorganisierender Ordnung es sich um das fünfte und sechste Netzgesetz handelt 99 - als anarchisch und wild 100 kritisiert, somit das nur geringe Maß an tolerierter Differenz Auskunft über die Freiheit der Kunst in der niederländischen Gesellschaft gibt. Das Ethos der Dissidenz ist jedoch bereits mit der Visualisierung von Erkenntnisgrenzen und Widersprüchen in ein Ethos der Agenz überführt. Als Netzprojekt im engeren Sinn dient etoy als Beispiel für eine Vernetzung innerhalb eines Mediums (Hypermedialität); als Netzprojekt im weiteren Sinn praktiziert etoy mit der Konnektion menschlicher Akteure und technischer Komponenten eine Medien und Gattungen konvergierende Multi- und Intermedialität. Das konnektive Handlungsfeld synästhetischer Qualität, das über den Kunstgriff taktischer Adaptierung und Umfunktionierung von Elementen, Funktionen und Programmen eines Wirtschaftsunternehmens wirtschaftliche Strategien in die Kunst inkludiert, entwickelt nach der Logik eines spektakulären Kapitalismus "eine ungeheure Sammlung von Spektakeln" 101 , differenziert eine für bildend künstlerische Arbeiten bislang unbekannte Form eines geschlossenen Selbst- und Wertschöpfungskreislaufs aus und nutzt das Prinzip der Vernetzung zur eigenen Organisation. Diese emergenten Phänomene mit neuen Strukturen, Ordnungen und Eigenschaften entstehen aus dem prozessualen Zusammenwirken von Einzelelementen, die sich aus der Anordnung und den Eigenschaften der Komponenten nicht herleiten lassen, jedoch auf sie zurückwirken. Emergente Eigenschaften des Gesamtphänomens sind selbst mit zuverlässigem Wissen über dessen Einzelbestandteile unvorhersagbar.

Gegenstand der Nonlinearen Dynamik sind Systeme wie die hier zu theoretisierenden künstlerischen Handlungsfelder, die Komplexität sowohl in ihrer zeitlichen Entwicklung als auch in ihrer räumlichen Struktur aufweisen 102 , mit Strukturbrüchen, Turbulenzen, Instabilitäten und Phasenübergängen ausgestattet sind und deren Strukturen und Prozesse sich durch systemimmanente Operationen verändern. Hier ist die Entwicklung neuer Strukturen möglich, die sich ihrerseits durch Iterationen und Rückkopplungseffekte der Dynamik weiterentwickeln. Die Ursachen für die Ausbildung neu geordneter zeitlicher und räumlicher Strukturen liegen entweder bei externen Generatoren oder in internen, nichtlinearen Kopplungen einzelner Systemkomponenten: hierzu zwei erste, im Folgenden zu diskutierende Anmerkungen. 1.: Das Kunstsystem scheint sich aktuell in Anwendung des Erschließungsdiskurses der Kunst auf das Kunstsystem selbst sowie in Folge des Technologieeinsatzes und der netzkatalytischen und -transformatorischen Einflüsse in einem Phasenübergang zu veränderten Produktions-, Distributions-, Rezeptions- und Verarbeitungsweisen zu befinden, die nicht durch institutionelle Mechanismen des White Cubes bestimmt werden, sondern sich an spezifischen Eigenschaften und Leistungen des Netzes orientieren und sich in Formbildungen z.B. von (virtuellen) selbstverwalteten Produktionsräumen, kollektiven Ateliers, selbstorganisierten Präsentationsräumen und Distributionsaktionen äußern. Diese Beobachtung hält auch unter Berücksichtigung des Hinweises von Wulffen, dass das Kunstsystem eine Metastabilität aufweisen würde, stand: "Die Strukturen des Betriebssystem Kunst als System [...] sind metastabil. Innerhalb bestimmter Grenzen sind und bleiben die Strukturen stabil, wobei die Strukturen sozusagen selber testen, wieweit ihre Stabilität gefährdet ist, um sich bei einer Gefährdung auf einem anderen Level zu stabilisieren." 103 Es bleibt abzuwarten und fortgesetzt zu prüfen, ob es sich hierbei weiter um parallele Ausprägungen handelt, welche Überlebensdauer diese Form aufweist und wie die Entscheidung des Kunstdiskurses im Kunstsystem ausfällt, diese Formen z.B. zu inkludieren, d.h. wie fortgesetzt die Sinnbildungsprozesse durch die beteiligten Konstituenten verlaufen, und welche Anschlussoperationen von den kulturverwaltenden Systemstellen gebildet werden. 2.: Einer Wissenschaftsdisziplin 'Transformatik' zuordbare künstlerische Praktiken probieren Variationen von Formen, Codierungen und Schließungen, indem sie bestehende Formen zu deren Re- oder Transformation mit Kapazitäten des Kunstdiskurses und anderer Diskurse anreichern und experimentiell verhandeln, in bestehende Verhältnisse intervenieren und Formableitungen anregen. Die konkreten Interventionen von WochenKlausur beispielsweise generieren neue dynamische Möglichkeiten der Morphogenese, der Entstehung von Formen, und schöpferische neue Wendungen 104 , in den nichtlinearen Wissenschaften als Bifurkationspunkte (Abb. 8) bezeichnet - Übergangsstellen zu alternativen Möglichkeiten der Fortsetzung, die durch kleinste äußere Einflüsse herbeiführbar sind. Durch diese zeitlichen wie auch räumlichen Symmetriebrüche - eine Qualität, die Baecker veranlasst, das Prinzip der Nichtlinearität als Joker zu kennzeichnen 105 - entstehen in Wirksamkeit künstlerischer Prozesse diskontinuierliche, nichtlinear dynamische Veränderungen in gesellschaftlicher Breite und mit aktueller Relevanz. Diese Prozesse sind mit der bereits eingeführten und fortgesetzt auszuformulierenden Operation des Verschiebens (eine Torpedierung fixierter Relationen in eingerichteten Ordnungen und deren Zustandsveränderungen) theoretisierbar.

Vor dem hier zur Anwendung gebrachten Theoriehintergrund existieren Unterschiede der drei zu diskutierenden künstlerischen Handlungsfelder neben ihrer Form und Funktion auch im Grad ihrer Komplexität, im Maß des Ordnungszustandes, in ihrer Steuer-, Kalkulier- und Prognostizierbarkeit; denn die Komplexität der Nichtlinearität liegt in der Unbestimmtheit, die eine exponentielle Wirkung nicht zwingend, sondern möglich macht: WochenKlausur hält intern die Dynamik und die Eigenkomplexität kombinatorischer Möglichkeiten überschaubar und die Ordnung der prozeduralen Methodik straff organisiert, regt mittels des interventionistischen Eingriffs in die lineare Zukunftsentwicklung eine alternative Zukunft an, die nach vorab festgelegten Maßgaben zielgerichtet und ergebnisorientiert angesteuert wird. Als Zielpunkt ihrer Dynamiken dient ein exakt vordefinierter Attraktor, der den anzustrebenden Ordnungszustand vorgibt und gegen den die Handlungen konvergieren. AVL praktiziert ein weites Spektrum an möglichen eigenen Zukünften, ist neben Selbstorganisation und starker (Rück-) Bezüglichkeit zu Veränderungen der eigenen Struktur und zu raum-zeitlichen Entwicklungen aufgrund nichtlinearer Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Elementen in der Lage 106 , kann jedoch die Störungen von außen in Form regulierender Maßnahmen nicht abfangen und reagiert mit der programmatischen Änderung, die blinden Flecke mittels der Bildung eines autonomen Raumes innerhalb eines überregulierten Staates zur Anschauung zu bringen. Ihre Produktivkräfte und Produktionsergebnisse entspringen häufig einem kollektiven Zufall, häufig sind sie Nebenprodukte von List und Strategie der Subversion, sie selbstorganisieren sich aus dem Chaos heraus und treiben durch systemimmanente Operationen die Bildung neuer Ordnungen voran - eine zweite Art von Chaos 107 , das als ein aktives Chaos, als sog. "Quelle des Kreativen" 108 wirkt. etoy führt als quasi börsennotiertes Unternehmen mittlerweile ein stabiles Verhalten trotz oder gerade wegen seiner Komplexität vor, welches folgekonsequent mittels des Wertverlaufs der etoy.SHARES im sog. etoy.CHART visualisiert wird, und organisiert den performierenden Prozess der Ausformulierung unter Einbeziehung von kapitalistischer Logik und ökonomischer Superlativ-Rhetorik zielstrebig, selbstverstärkend und selbst(re-)produktiv im Abgleich mit dem etoy.BUSINESSPLAN. Die allmähliche Ausdifferenzierung in zeitlichem Anschluss an den Toywar 1999/2000, insbesondere die Verringerung des Finanzrisikos durch Allianzen mit institutionellen Förderern und Sponsoren 109 , streben seither zu Gunsten des Fortbestands und zur Stabilität der Zukunftsarchitektur, jedoch zu Lasten des geschlossenen Kreislaufs von Selbst- und Wertschöpfung eine Minimierung von Unsicherheit und Diskontinuität an. 110

Aus diesen vorab genannten Theorieelementen ist als organisatorische Möglichkeitsbedingung für künstlerische Handlungsfelder ein konnektionistisches Grundprinzip abzuleiten, das von der Annahme der Existenz heterogener und über gewisse Aktivitätsgrade verfügender Einzeleinheiten mit diversifikatorischen Physiognomien ausgeht. Zwischen diesen Elementen existieren Beziehungen und damit in Interaktion Möglichkeiten der wechselseitigen Beeinflussung des Verhaltens der beteiligten, kooperativen Komponenten; Interaktionen, die jedoch auch unterbleiben oder abbrechen können und die aufgrund der jeweilig verschiedenen Aktivitätsgrade der interaktionsfähigen Komponenten unterschiedlich gewichtet sind und damit gerichtet aktivierend oder hemmend wirken. Wiederholte, rekursive Interaktionen stabilisieren sich in einem Prozess der Strukturbildung zu relativ festen, graduell zu differenzierenden Verbindungen, den sog. Konnektivitäten. 111 Ein konnektionistischer Ansatz bildet demnach den operativen Rahmen für Rückkopplungen und nichtlineares Verhalten, für ineinandergreifende Phänomene und Komplexitätsentfaltung, für Interrelationen und Operationalisierungen, steht folglich mit den genannten Theorien in Zusammenhang, ist jedoch ebenso zu differenzieren. Im Mindesten gilt er als Möglichkeitsbedingung für die hier zu beschreibenden Phänomene, wie ich sie unter dem Aspekt Kunst als Handlungsfeld subsumiere, und stützt die bereits erwähnten netztheoretischen Überlegungen, die ihrerseits die empirischen Indizien der zu beobachtenden künstlerischen Praktiken auffangen.

Weitere theoretische Vorentscheidungen - die theoretische Verbundenheit zu Deleuze/Guattari ist bereits angedeutet worden - sollen im Verlauf der Arbeit eingebunden werden, vorab schon ihre Erwähnung finden: erstens die Anwendung des insbesondere zur Erschließung von Operativität und Anschlussfähigkeit sowie fortgesetzter Funktionstüchtigkeit sich eignende Formbegriff der Differenz, der in dem Indikationenkalkül operativer Logik von George Spencer Brown von 1969 aufzufinden ist, auf dem die Systemtheorie aufsetzt und in dem die auszuführende Fähigkeit zur Selbstreferenz aufgehoben ist; zweitens die Bewegung der Dekonstruktion, wie sie als philosophischer Topos 1967 durch Derridas Ausführungen 'De la grammatologie' 112 in den philosophischen Diskurs eingeführt wurde, und deren stets mitlaufender Vorbehalt.113


Kunstwissenschaftliche Anmerkungen

Mit der Umarbeitung eines objektfixierten, ontologisch-essentialistischen oder substantialistisch verfassten Kunstbegriffs schließen meine Untersuchungen zur Kunst als Handlungsfeld an inhaltliche und formale Verschiebungen durch Theorien und Kunstproduktionen seit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre sowie Anfang der neunziger Jahre an und lassen sich zwei ordnende und fortgesetzt auszudifferenzierende Motive extrahieren: das Motiv der Selbstreferenz und das der Operationalisierung. Zuvor verweise ich auf komprimierte kunsttheoretische Motive, die sowohl in der Konzeptkunst als auch in der Kontextkunst aufzufinden sind und von gegenwärtigen, hier zu diskutierenden Kunsttendenzen fortgeschrieben werden: "[...] deren bekanntes Beharren auf der Kontextualität von Bedeutung, das Primat des Rahmens über den (Bedeutungs-) Inhalt, die Kritik institutioneller Eingebundenheit, die Auflösung der Differenzen Kunst/Leben und Produzent/Rezipient, die Betonung des Prozesshaften gegenüber dem fixierten Objekt, die Kritik an der Warenform von Kunst, die Akzentuierung von Ortsgebundenheit, schließlich die interdisziplinäre, diskursiv-ästhetische Hybridität [...]" 114 .

Bei einer Anbindung meiner Untersuchungen an die Conceptual Art der späten sechziger und frühen siebziger Jahre sowie an die Kontextkunst der neunziger Jahre, bei der es sich nur scheinbar um eine historische Debatte und um eine Ausblendung aus aktuellen Verwicklungen handelt, interessieren insbesondere deren selbstreferentiellen Vorgänge, die ich als Möglichkeitsbedingung für die Ablöseprozesse von der Repräsentationsstrategie der Kunst zugunsten von Operationen anerkenne. Konzeptkunst und Kontextkunst schließen zeitlich die in den achtziger Jahren stattfindenden thematischen und methodischen Untersuchungen und selbstbezüglichen Beobachtungen der Systemtheorie sowie die im Umkreis der Second-Order Cybernetics 115 stattfindenden Debatten des Radikalen Konstruktivismus 116 zu Themen der Selbstreferentialität ein, die die sich auch aktuell noch in der Erkundungsphase befindliche Theorie der Selbstreferenz 117 fortgesetzt ausdifferenzierten. Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, dass eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustande kommen kann. Das bedeutet, dass Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst Bezug nehmen, wobei alle Vorgänge der Aufrechterhaltung der eigenen Identität untergeordnet werden. 118 Systeme müssen eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und gleichermaßen damit arbeiten; sie müssen, so behauptet die Systemtheorie, mindestens die Differenz von System und Umwelt systemintern als Orientierung und Prinzip der Erzeugung von Informationen verwenden können 119 . Alle zugehörigen Bestandteile des Systems, einschließlich etwaiger Grenz-, Spitzen- und Mehrwerte, müssen in die Selbstherstellung einbezogen werden. 120 Thomas Wulffen 121 verweist auf die verantwortlichen Gründe für die bisherige Skepsis gegenüber selbstreferentiellen Prozessen in kunstwissenschaftlichen Betrachtungen 122 : der Mangel an theoretischen Mitteln bei der Bearbeitung, das Defizit theoretischer Anschlussfähigkeiten, der Effekt der Unkontrollierbarkeit und die Schwierigkeiten, die mit der sog. Metaierung innerhalb selbstreferentieller Prozesse verbunden sind. Diese hebe die vereinbarte, kanongültige und strikte Trennung von Objekt- und Metaebene auf, die jede um wissenschaftliche Erkenntnis bemühte Tätigkeit bisher praktizierte, und oszilliere beständig zwischen Objekt- und Metaebene, d.h. kann zwischen Objekt- und Metaebene nicht unterscheiden - vergleichbar denjenigen selbstreferentiellen Prozessen künstlerischer Verfahren, die permanent zwischen Objekt- und Metaebene hin- und herschalten, um das System selbst zu thematisieren. 123 "[...] bei einer analytischen Betrachtungsweise, die immer vom wissenschaftlichen Regelwerk ausgeht, [werden] selbstreferentielle Prozesse und Verfahren ausgeschlossen. Von daher ist es verständlich, dass Selbstreferenz zwar Thema der Kunst selbst ist und war, aber in der kunsttheoretischen Betrachtung selten vorkommt." 124 Wulffen selbst begegnet der transzendental verfassten Kunstdebatte mit überarbeiteten Programmatiken und Modellen und nimmt eine theoretische und terminologische Verzahnung mit systemischen und (computer-) technologischen Überlegungen vor: "Zeitgenössische Kunst muss heute als ein System verstanden werden, das spezifische Strukturen ausgebildet hat, besondere Prozesse kennt und bestimmten Regeln gehorcht. Struktur, Prozesse und Regeln bilden innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Gefüges einen relativ eigenständigen Komplex. Die für die Aufrechterhaltung dieses Komplexes notwendigen Bedingungen werden hier unter dem Stichwort 'Betriebssystem Kunst' zusammengefasst. [...] Zeitgenössische Kunst [...] greift heute in besonderer Weise auf das Betriebssystem Kunst zurück und reflektiert dessen Bedingungen." 125 Eine Geschichte selbstreferentieller Prozesse in der Kunst soll hier nicht erarbeitet werden 126 ; vielmehr behaupte und führe ich zur These aus, dass die zu beobachtenden Tendenzen (in) der zeitgenössischen Kunst hinsichtlich der Form der Selbstreferenz sowohl die kontextuellen Prozesse seit den frühen neunziger Jahren 127 , zuvor die konzeptuellen Tendenzen in der Kunstproduktion der späten sechziger und frühen siebziger Jahre als auch die die differenztheoretischen Debatten zum Ausgeschlossenen 128 auf der Grundlage dekonstruktivistischer Anliegen implizieren und auf deren Ergebnissen aufsetzen. Die integrative Verknüpfung von system- und komplexitätstheoretischen und nun von selbstreferentiellen und de-/konstruktivistischen Theorieergebnissen führt zur Beobachtbarkeit des aktuellen Kunstsystems, aktueller Kunstproduktionen und künstlerischer Praktiken, ihrer Organisationen, Möglichkeiten und Ziele, die von Information, Aufklärung, Kritik und Protest, d.h. von symbolischen, modellhaften und diskursiven Produktionen bis hin zu Formen konkreter Interventionen 129 operationalen Ausmaßes sowie erkundeten und neu entworfenen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern reichen: "So wurde aus dem Entschleiern ('unveiling') der Konstruktion von Kunst [...] die Konstruktion von Realität, die Wiedergewinnung von Teilbereichen der Wirklichkeit." 130

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre 131 starten mit der Conceptual Art und der Institutional Critique die selbstreferentiellen Untersuchungen des White Cubes 132 , der neben methodologischen und wissenschaftstheoretischen Formen der Komplexitätsreduzierung bei der historischen Herstellung des einsamen, isolierten und segmentierten Einzelwerks und dessen Implikationen wie Originalität, Stringenz und Autonomie als "institutionelle Form des Kontextraubs" 133 herausragt, als Identitätsfigur die Rahmenbedingungen für die Produktion, Rezeption, Präsentation und Perzeption von Kunst vorgibt (Abb. 9) und somit wesentlich die Herausbildung und Formulierung des Betriebssystems Kunst verantwortet. Kunstproduktionen dieser Zeit reagieren auf ihre kontextuellen Implikationen und Funktionszusammenhänge und dekonstruieren den weißen, vorgeblich neutralen Ausstellungsraum und dessen Form und Funktion als materiellen und immateriellen Rahmen einer Kunstsetzung, legen dessen Raumprinzipien und/oder inszenatorische Komponenten als Konstitutive offen, fokussieren dabei die Funktion der weißen Wand als Kontextbegrenzung und die physische Dimension des White Cubes innerhalb der Koordinaten der Kunstherstellung, analysieren die vorzufindenden institutionellen Bedingungen der Kunstwerke und reagieren auf die Austausch- und Verschiebbarkeit künstlerischer Arbeiten mit ortsspezifischen Installationen. 134 Zahlreiche Aktivitäten verlassen in Annahme der Existenz eines noch unbelasteten Ortes, eines unkonditionierten Publikums und noch unbeanspruchter ästhetischer Strategien außerhalb der Machtstrukturen programmatisch den White Cube. 135 1976 hält Brian O'Doherty 136 seine bis heute die Rezeption des Museumsraumes und der hier praktizierten Politik der Perzeption dominierenden Beobachtungen der künstlerischen Aktivitäten seiner Zeit in einer dreiteiligen Essay-Serie 137 fest und markiert die beginnenden Diffusionsprozesse zwischen Kunst und ihrem Kontext als Paradigmenwechsel der Moderne zur Postmoderne: 138 Seine hierfür gewählte Untersuchungsform des White Cubes, des vergegenständlichten räumlichen und institutionellen Kontextes eines jeden Kunstwerks der Moderne hatte sich durch die Kulturtechnik des Ausschlusses bestimmender Faktoren als eine isolierte, uneinsichtige Black Box konstituiert, deren organisatorische Prinzipien wegen ungenügender Selbstbehandlung noch unverfügbar waren. Die Kunstwerke und ihr bis hierhin ausgegrenzter Kontext beginnen Mitte der sechziger Jahre zu oszillieren, die weiße und nur scheinbar neutrale Wand des Museums übernimmt die Funktion einer Membran - eine metonymisch eingesetzte Formulierung für die Beschreibung unterschiedlicher, systemischer Eigenschaften und Funktionsweisen, nach denen der White Cube als ein bislang geschlossenes System mit strengen Distinktionen und Komplexitätsreduzierung, mit Redundanzerhöhungen und Iterationsschleifen zu beschreiben sein kann 139 - und weist nun molekulare Erschütterungen auf 140 . O'Dohertys kunsttheoretische Funktionsanalysen des White Cubes, welche Einheit durch Unterscheidung zwischen Text und Kontext ersetzen und damit das identitätische Prinzip durchbrechen - auf den differentialistischen Formbegriff, in dessen zweiseitiger Form die Fähigkeit zur Selbstreferenz bereits untergebracht ist, gehe ich in meinen Folgeausführungen ein -, machen gegenseitige Abhängigkeiten von auratischem und isoliertem Einzelwerk und seine wesentlich durch den White Cube vorgegebenen konstitutiven Möglichkeitsbedingungen beobachtbar.

Dabei reicht dessen operative Dimension über die Modalitäten der Präsentation von Kunst weit hinaus und nimmt als Mechanismus konstitutiven Einfluss nicht nur auf die Produktion, sondern auch auf deren Rezeption, Dokumentation, Reproduktion und Publikation, wie sie in den neunziger Jahren Gegenstand werden sollen. Die Kunstproduktionen der neunziger Jahre starten die Analyse konstitutiver sozialer, geschlechtlicher, religiöser, ethnischer und ökonomischer Bedingungen ihrer Entstehungsprozesse und eröffnen ein Feld für kontextuelle Raumauffassungen, zu denen - ebenfalls unter Einbindung von Komplexitätsüberlegungen - Nina Möntmann 141 ausführt: Der soziale Raum der neunziger Jahre konstituiere sich nicht als homogenes Gebilde oder Kategorie, sondern als ein sich ständig im Prozess befindliches Produkt sozialer Beziehungen und sozialen Handelns. 142 Zahlreiche künstlerische (wie auch kuratorische und publizistische) Aktivitäten thematisieren seither neben einer künstlerischen Praxis, die mit dem Potential der ästhetischen Erfahrung in performativen Inszenierungen die Position des Individuums in seiner sozialen Umgebung erforscht, das "institutionelle 'support system' und die ihm zugehörigen Einstellungen zum Material" 143 ; widmen sich der Frage nach der gesellschaftlichen Stellung und der Funktion von Kunst, ihrem Ausstellungsort und dessen Funktion im Ausstellungsbetrieb, der kuratorischen Praxis und den Bezügen zur Rezeption von Kunst. 144 Spezifische Institutionen 145 , diskursive Praxen, Strukturen, Regeln, Mechanismen und Machtverhältnisse, unter denen Kunst produziert, präsentiert, rezipiert und gehandelt wird, werden als konstituierende Rahmenbedingungen untersucht. 146 Jene Aktivitäten bringen künstlerische Produktionsverfahren zur Anwendung, die an die 'Post Studio Practices' der kritisch-analytischen Tendenzen von Conceptual Art und Institutional Critique anknüpfen. 147 Rechercheorientierte und ortsspezifische Projekte, Arbeitsmethoden aus Wissenschaft und Forschung, journalistische Recherchen, Interviews und Kommentierungen, Verlagerungen der künstlerischen Arbeit in Bibliotheken und Archive bringen beobachtende Werke zweiter Ordnung hervor, die sich mit soziologischen, biologischen und ökologischen, mit historischen, technologischen und urbanistischen Aspekten auseinandersetzen und die Möglichkeit bieten, bisherige Beschreibungen wie auch Beschreibungsweisen zu beobachten und zu variieren, bisheriges Wissen verändert zu ordnen und Perspektivwechsel vorzunehmen. Primär- und Sekundär-Informationen (Dokumentationen, Texte, Recherchen, Fotos, Karten, Listen, Diagramme, Messungen, Tabellen, Videos und Filme) fließen übergangslos in fragmentierten Installationen ineinander und konstruieren ein Netzwerk von Zeichen, zahlreichen Verweisen und Bezügen sowie Verzweigungsmöglichkeiten - vergleichbar den Links im Internet. Kunstproduktion und Theoriebildung sind im Sinne einer wissensproduzierenden Praxis miteinander verschränkt, indem Materialkompendien zusammengestellt und Ausstellungsräume als Informations-, Interventions- oder Impulsträger, als temporäre Kommunikationsforen oder als Experimentierfeld für lokale Interventionen genutzt werden.

Peter Weibel 148 führt Ende 1993 die Bezeichnung der Kontext-Kunst für jene kontexuntersuchenden Positionen der Kunst der frühen neunziger Jahre in den Diskurs ein und befindet ebenfalls, dass erst die kontextuell orientierten Methoden und Praktiken die Wahrnehm- und Erkennbarkeit von Kunst als ein soziales System 149 ermöglichen und sich zu deren erkenntnistheoretischer Analyse eignen, da sie die äußeren Faktoren weniger ausblenden als vielmehr die Eingebundenheit der Kunstwerke in ihren Kontext und in ein Netz komplexer Beziehungen zwischen der Kunstproduktion als einer künstlerischen Äußerung und den zeitgleichen Diskursen, Ideologien, historischen Strukturen und Prozessen belegen 150 . Mit der Enthüllung der Rahmenbedingungen der Konstruktion von Kunst beginnt die Kunst nun auch, an anderen Diskursen zu partizipieren und "damit die Grenzen der Institution Kunst extrem zu erweitern, zu perforieren und aufzuweichen" 151 . Kontext-Kunst würde sich, und hier deuten sich nicht nur Möglichkeitsbedingungen für die hier zu diskutierenden Tendenzen, sondern bereits funktionale Schnittstellen an, nicht länger nur innerhalb des Systems Kunst bewegen und auf die Apparatur des eigenen Betriebssystems beziehen, sondern ihre Kontextualisierungsmethodik eigne sich sowohl als Instrument der Selbstbeobachtung als auch als Kritik und Analyse anderer Institutionen und Disziplinen wie beispielsweise von Justiz, Politik, Ökonomie, Ökologie und Wissenschaft. 152 Hierbei handelt es sich jedoch noch nicht um die im Folgenden zu behandelnden Begriffe und Konzepte wie Konnektivität, Interaktion, Emergenz und Netzwerke, sondern prinzipiell um die Analyse und/oder Kritik eines Gefüges, dem, wie sich zeigen wird, nicht mehr nur referentiell, sondern zeitlich und damit strukturell begegnet wird. Ausgewählte Beispiele künstlerischer Praxis nehmen Oszillationen von Text und Kontext sowie unterschiedliche Re-Entries vor (wie das der Kunst in andere Funktionssysteme durch die Interventionen von WochenKlausur, der Anschlussfähigkeit in den White Cube durch AVL oder der Interaktion von Wertschöpfung und Wertschätzung in die Kunst durch etoy), wie sie von den theoretischen Bestrebungen des sog. Kontextualismus nicht aufgefangen werden, die das zunächst isolierte Kunstwerk sodann mit (s)einem kulturellen, ökonomischen, religiösen oder sozialen Zusammenhang in Beziehung setzen. Denn dies hieße, einen lediglich sekundären Kontext und zwar "von Gnaden der Kunstgeschichte" 153 methodologisch zu kreieren und deren "Geburtsfehler" 154 durch überragend kompensatorische Maßnahmen zu beheben oder zumindest zu verdecken.

Hinsichtlich der bereits vorgetragenen Konzeption der Kunstdefinition, die Tendenzen der Deontologisierung und Operationalisierung folgt, schließe ich an die von Derrida 1968 alternativ zur Metaphysik der Präsenz entwickelte Denkfigur der 'différance' 155 und deren Doppelstrategie der Verzeitlichung und Verräumlichung an, die auf der Grundlage einer deontologisierten Beobachtung zur Explikation einer Kunstdefinition als eine Operation des Verschiebens anregt. Hierin befinde ich mich in theoretischer Nähe zu der als Resultat ihrer bereits in den späten achtziger Jahren begonnenen künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Betriebssystem Kunst extrahierten Position Andrea Frasers 156 von 1995, die zwischen Formen kultureller Produktion und künstlerischer Praxis unterscheidet. Kunst in der Form künstlerischer Praxis definiert Fraser "als die Analyse von und Intervention in soziale/n Beziehungen" 157 , die ehedem verkannt zu kulturellen Produktionen und ihren manifestierenden symbolischen Systemen umgearbeitet wurden. Die Kunstform der künstlerischen Praxis hätte sich gegen die Reduktion auf die bloße Reproduktion ihrer Produktionsverhältnisse behaupten können; deren organisierendes Prinzip seien nicht die arbiträre Manifestation, Vergegenständlichung und Reproduktion der Kompetenzen und Dispositionen von Produzent und Rezipient in Form sog. kultureller Produktionen, sondern ein Mittel der unmittelbaren, praktischen und relationalen Auseinandersetzung mit den Determinanten. Die kulturellen Produktionen - zu ihnen zählt Fraser genreübergreifend ein jedes Kunstobjekt, eine jede künstlerische Konstruktion und Aktivität, die nicht der Maßgabe der Kritik mit dem Ziel der Veränderung nachkommen 158 - sind Teil dieser Auseinandersetzung, die ünstlerische Praxis müsse jedoch notwendig über sie hinaus gehen und gegen deren Identitäts- und Reproduktionspolitik Widerstand leisten. Das Ziel der Form künstlerischer Praxis legt Fraser nicht als Interpretation, sondern als Veränderung des künstlerischen Feldes 159 fest: "[...] nicht die Beschaffenheit der Produkte zu verändern, sondern die Struktur der Positionen in diesem Feld und die Beziehungen zwischen den solchermaßen strukturierten Positionen." 160 Fraser macht jedoch Eingeständnisse: "Und wenn eine solche Veränderung nicht (oder fast gar nicht) zu leisten ist, dann ist künstlerische Praxis der Versuch, die Möglichkeitsbedingungen dieser Veränderung zu bestimmen." 161 Den Paradigmenwechsel 162 von Kunst als einer Form kultureller Produktion zur Kunst als einer Form künstlerischer Praxis - in Korrelation der Wechsel von geschlossenen ästhetischen Werkobjekten zu offenen Handlungsfeldern - setzt Fraser in den sechziger und frühen siebziger Jahren an, als die Minimal Art Beziehungsverschiebungen in den Außenraum vornahm: Statt die bisherigen Beziehungen zwischen Volumen und Oberfläche wie bei der Skulptur zu komponieren, wurden nun die Beziehungen zwischen dem Körper des Betrachters und einem Objekt im Raum organisiert. 163 Im Zusammenspiel von institutioneller Kritik, politisch-dokumentarischen und aktivistischen Arbeiten sowie feministischen Praktiken dieser Zeit begannen, so Fraser, die Erforschungen der ökonomischen, sozialen, historischen, geschlechtlichen Faktoren, die nunmehr als Möglichkeitsbedingungen für ein Kunstwerk galten.

Frasers Theoretisierungen sind zweifelsfrei system- und komplexitätstheoretische Ansätze von Relations-, Organisations- und Strukturuntersuchungen zu entnehmen, eine Ausformulierung dieser Position führt zu eine Anzahl n zu eruierender und zusammengeführter Einzelpositionen, die ihrerseits Beziehungen zueinander eingehen bzw. nicht eingehen, deren Anordnung, Relationen bzw. Interaktionen zwischen den Elementen eine spezifische Strukturverfasstheit und Musterbildung ausprägt und deren operationales Zusammenwirken spezifische Formen herausbildet. Die Relation eines Dualismus von künstlerischer Praxis und kultureller Produktion, wie Fraser sie als ein hierarchisches, oppositionelles und evolutionäres Verhältnis mit ethischen und politischen Implikationen 164 und mit der Codierung innovativ/reaktionär entwirft sowie das teleologisch und evolutionär konzipierte Fortschrittsmodell, welches Fraser überdies zu der Bewertungstechnik führt, künstlerische Arbeiten normativ nach dem Grad ihrer Determiniertheit hinsichtlich der Produktion, Präsentation und Veröffentlichung zu befragen und diesbezüglich die Leistungsfähigkeit ihres Engagements zu beurteilen, ist vor dem hier gewählten theoretischen Hintergrund notwendig als simplifizierende und polemische Schlussfolgerung infrage zu stellen und zu Gunsten von Standpunktvervielfältigungen und Komplexitätserhöhungen zu entspannen. Statt des evolutionären Kunstgeschichtsmodells Frasers weist Lucy Lippard 165 in ihrer 1973 publizierten Bibliographie ihrer Erinnerungen der Jahre 1966 bis 1972, die chronologisch in Crossing-Methode Ausstellungen, Kataloge, Symposien, Artikel, Interviews und künstlerische Arbeiten kombiniert (Abb. 10), auf den Ausnahmestatus der Kunstproduktionen dieser Jahre hin und bezeichnet diese als "'Escape attempts' from cultural confinment" 166 . Während sich Fraser zur Kategorisierung von Kunstphänomenen dessen organisierenden Prinzips und Innovationsgrades bedient, nutzt Lippard mit dem Grundprinzip der 'dematerialization' eine zunächst gegenstandsorientierte Kennung als Differenzmerkmal: Nachdem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Objekt fundamentales Interesse fand, würde nun das Konzept, die Information, die Idee (aufgehoben im Terminus Conceptual Art, Abb. 11) zur signifikanten Größe werden, die Widerstand gegen die sakrosankten, heroischen und patriarchalen Mythologien früherer Jahre leisten könne, indem sie selbstreferentiell Kunstkonzeptionen analysieren und zur Anschauung bringen würde und darüber hinaus auf Grundlage der Reflexions- und Inspirationsqualität von Kunst in utopischer Manier eine neue Welt zu visualisieren versuche. 167 "Conceptual art [...] was all over the place in style and content, but materially quite specific." 168 Diese Überlegung gibt Lippard in Einsicht der Ungenauigkeit dieser Kennung zugunsten eines Innovationsgehaltes mit politischen und ethisch moralischen Implikationen auf: "Concept art is not so much an art movement or vein as it is a position or worldview, a focus on activity." 169

Zur konzeptionellen Erweiterung des Kunst-Begriffs führe ich abschließend Henk Oosterlings 170 und Nicolas Bourriauds Positionen an: In Verwendung Oosterlings Begrifflichkeit der 'In(ter)ventive Art' von 2001 lässt sich eine gleichermaßen erfinderische wie auch eingreifende und vermittelnde Kunst mit einer relationalen Ästhetik beobachten, die ihren Blick auf die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen allen beteiligten Komponenten lenkt und Kunstwerke eher als (reflexive) Verben statt versteinerter Substantive definiert 171 . Auch Bourriauds Theorie der 'esthétique relationelle' von 1995 172 ist in die Theoretisierungen von Deontologisierung und Operationalisierung von Kunst einzureihen und bearbeitet zugleich mit der Nichtlinearität ein weiteres Motiv. Bourriaud weist auf eine in gegenwärtigen künstlerischen Praktiken vorherrschende Ästhetik des Inter-Humanen, der Begegnung und der unmittelbaren Nähe hin und stellt fest, dass künstlerische Arbeiten nicht länger durch Materialität oder Konzeptualität als vielmehr durch Relationalität, z.B. zwischen Individuen und Institutionen definiert sind: "Art is an activity consisting in producing relationships with the world with the help of signs, forms, actions and objects." Der Künstler transformiere zu einem Operator von Zeichen, der in der Funktion eines Entrepreneurs Strukturen modelliere Kunstwerke produzierten ein "model of sociability", welches die Realität transponiere, im Mindesten diese aber vermitteln dürfte; künstlerische Praktiken kreierten dauerhafte Formen, indem sie heterogene Elemente in einer Kohärenz zusammenführten. Im Rückgriff auf die vegetative Form des Efeus prognostiziert Bourriaud ein relationales und zunehmend komplexes, aus Netzwerken bestehendes Universum: "[...] Current art is composed of these mental entities which move like ivy, growing roots as they make their way more and more complex." 173 und steht damit in formaler Nähe zur Rhizomtheorie Deleuze/Guattaris von 1976, die ein strukturell neues Zugriffsmodell als ein der bisherigen Logik des Abendlandes unterschiedliches Denken anbietet 174 : In Abgrenzung zu dem strukturalen Modell von Punkten und Positionen, welche sich in Relationen zueinander stellen, führen Deleuze/Guattari zur Form des Rhizoms 175 (Abb. 12) aus, das aus Linien, Segmentierungen, Schichten, Fluchtlinien, Territorialisierungen und Deterritorialisierungen besteht, die zusammen mit ihren jeweiligen Fließgeschwindigkeiten wie z.B. Verzögerungen, Überstürzungen, Zähigkeiten, Abbrüchen eine maschinelle Verkettung bilden. In Differenz zu bisherigen Modellen entzieht sich die Verkettung jeglicher signifikanter Totalität wie beispielsweise der Subjektivierung. Überdies behauptet Bourriaud für die sog. Ära des Simultanen, dass Formen nur in "online time" Gestalt annehmen (können): "The work of art can be approached as a form of reality, and no longer as the image of an image." 176 Diese Überlegung knüpft an die Ausführungen Foucaults zur vorherrschenden Epoche des Simultanen 177 an; jener begründete 1969 seine Theorie eines zeitgleich stattfindenden Paradigmenwechsels mit der Rezeption eines Textes von Gilles Deleuze von 1968 178 , indem er die griechische Sage der Ariadne neu erfand: Der Faden, an dem sich Ariadne in Foucaults Neuschreibung erhängt, da sie des Wartens auf Theseus' Wiederkehr überdrüssig ist, wird seiner ordnenden Funktion enthoben und nun als todesbringende Schnur gesponnen. Foucault verabschiedet die Repräsentationshoheit und fordert - eine für die vorliegenden Untersuchungen interessante Eröffnung dynamisierender Aspekte, wie sie in erweiterten netztheoretischen Überlegungen Berücksichtung finden -, "eher Intensitäten als Qualitäten und Quantitäten; eher Tiefen als Längen und Breiten; eher Individuierungsbewegungen als Arten und Gattungen" zu denken179 .







1 Bourriaud 1995, S. 59.

2 Wulffen 1994 a.

3 Schmidt 1999, S. 37.

4 Bourriaud 1995, S. 59.

5 Vgl. Kemp 1992, Kemp 1996, Baecker 2002.

6 Weibel 1999 d, S. 44.

7 Aufgrund der modifizierenden Dynamik und transitorischen Qualität des Internets stoßen externe Links häufig auf sog. Dead Links. Für diesen Fall empfehle ich die Recherche der von mir im Folgenden angegebenen URLs im Internetarchiv http://www.archive.org.

8 Zum Unterschied zwischen Hacker und Cracker vgl. Raymond 2001: "Hackers build things, crackers break them. [...] Hackers solve problems and build things, and they believe in freedom and voluntary mutual help." http://www.catb.org/~esr/faqs/hacker-howto.html. Eric S. Raymond (Jhg. 1957, http://www.catb.org/~esr) ist Autor und Programmierer in der Hacker- und Open Source-Szene. Der Literaturwissenschaftler Florian Cramer (Jhg. 1969) bietet einen Überblick über drei sich z.T. widersprechende Definitionen. Ein Hack sei 1. eine wirkungsvolle, schnell, aber unsauber implementierte Funktion, 2. eine "genial-einfache und zugleich elegante Lösung", die eine komplexe Problematik kurz und knapp absorbiert (einem Witz vergleichbar), 3. eine durch Experimentieren statt durch Analyse gefundene Lösung eines Problems. Cramer 2001 a. Zum Hack als anspruchsvolle Programmieraufgabe mit dem Ziel der Erforschung und Verbesserung der zur Verfügung stehenden Hard- und Software sowie als kulturelles und soziales Phänomen vgl. Gröhndahl 2000, außerdem Chaos Computer Club/Wieckmann (Hg.) 1988.

9 Der Quellcode, Quelltext, Programmcode oder auch Sourcecode ist der für den Menschen lesbare, in einer Programmiersprache geschriebene Text eines Computerprogramms, der letztlich in eine Folge von Bits umgesetzt wird.

10 Dirk Baecker (Jhg. 1955) ist Professor für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke.

11 Baecker 2002, S. 104.

12 Ich danke Hans Bernhard (http://www.hansbernhard.com) für den Hinweis, bei Differenzierung von Aktivität und Passivität von Strategien und Methoden letztere mit der Bezeichnung 'Gemälde' zu belegen, "eben Oberflächen". Quelle: persönliche E-Mail-Korrespondenz mit Bernhard, 2004.

13 Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, Nr. 23, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt.

14 http://www.theatlasgroup.org.

15 http://www.raqsmediacollective.net.

16 http://www.onair.co.za.

17 Zum Begriff des Dispositivs vgl. Foucault 1978, S. 119f.

18 Vgl. die Ausführungen Wulffens aus 2001 zu nichtlinearen Techniken in der Kunst, die mit den vier Begriffsrastern Rhizom, Index, Sample und Hypertext zu theoretisieren sind und deren Anwesenheiten als Indiz für die Existenz nichtlinearer Techniken gelten können. Genauere Beschreibungskriterien sind, so Wulffen, noch zu entwickeln. Wulffen 2001, S. 52.

19 Weibel 1999 d, S. 44.

20 Huber 2001 b.

21 Varela 1984, S. 25.

22 Die Ars Electronica, Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft, findet seit 1979 jährlich in Linz statt (http://www.aec.at).

23 Stocker/Schöpf (Hg.) 2001.

24 Der künstlerische Leiter der Ars Electronica Gerfried Stocker antwortet: "Die Kunst von morgen wird gemacht von den Engineers of Experience in ihren Werkstätten der Welterfindung und Welterschaffung. Sie wird inszeniert zwischen Las Vegas und Tate Modern, zwischen IT-Algorithmen und Proteinsequenzen." Stocker 2001, S. 19.

25 Zum Umbruch der Medienlandschaft von Bildmedien zu Computern und zur Frage nach den gesellschaftlichen Motiven für diesen Wechsel vgl. Winkler 1997 b.

26 Stocker 2001, S. 17.

27 Stocker 2001, S. 20.

28 Zu dem Konzept der Maschine als erweitertes maschinisches Gefüge, das das Konzept der lediglich technologischen Maschine umfasst und das alle Arten von Beziehungen zu sozialen Komponenten und individuellen Subjektivitäten unterhält vgl. Guattari 1995.

29 Baecker 2002, S. 39. Der Begriff der Matrix wurde 1984 vom Science-Fiction-Autor William Gibson neben dem Begriff des Cyberspace in dem Roman 'Neuromancer' geprägt (dt. 1987). Eine Matrix stellt eine Anordnung von Elementen in mehreren Richtungen dar. In der Mathematik wird eine Matrix zur Anordnung von Zahlenwerten verwendet, in der Informatik entspricht eine Matrix einem n-dimensionalen Feld, in der analytischen Chemie ergeben die Hauptbestandteile eines Stoffes in ihrer Summe die Matrix. In der Biologie dient die Matrix als Bezeichnung für die Grundsubstanz von Zellorganellen wie Mitochodrien oder Chloroplasten.

30 Zur Evolution der Kommunikationsmedien in den Etappen Zeitung, Telegraph, Telefon, Film, Radio, Fernsehen, Tonband, Satelliten-TV, Fax, Btx, PC, CD, WWW vgl. Merten 1999.

31 Weber 2001, S. 24. Zu Differenzierung des Netzes als Medium in 1. das Netz als technische Infrastruktur, 2. als topischer Ort und 3. als Transportweg/Kanal vgl. Weber 2001, S. 34.

32 Als Referenzpunkt meiner Ausführungen soll die künstlerische Invention Marcel Duchamps dienen: Im Oktober/November 1942 installierte Duchamp im Rahmen der Ausstellung 'First Papers of Surrealim' in New York 'Sixteen Miles of String' (Abb. 1). Neben seinem Beitrag der grafischen Konzeption des Ausstellungskataloges verwebte Duchamp den Ausstellungsraum und die Einzelexponate der anderen ausstellenden Künstler mit 'Sixteen Miles of String'. Die Fäden durchliefen und verspannten den gesamten zur Verfügung stehenden Raum und vernetzten den Raum mit seinem Inventar zu einem Labyrinth von Fäden (Abb. 2). Brian O'Doherty wertschätzt Duchamps Gesten wie folgt: "Immer wieder sind wir überrascht, dass da Marcel Duchamp vor uns steht, aber er ist es, und er ist schon drinnen, bevor wir es merken, und nach seinem Besuch, der nie sehr lange dauert, ist das Haus nicht mehr so, wie es früher war." O'Doherty 1996, S. 71.

33 Zu urheberrechtlichen Folgen vgl. Grassmuck 2002.

34 Die Ars Electronica untersuchte 2003 unter der Themenstellung 'Code - The Language of our Time' den Einfluss von digitalen Codes auf Kunst und Gesellschaft. Die drei Themenkreise Code=Law, Code=Art, Code=Life bildeten dabei den Rahmen für die Fragestellungen nach der gesellschaftsregulierenden und -normierenden Macht von Computerprogrammen und ihren Standards implementierten Strukturen und Spielregeln. http://www.aec.at/en/festival2003/index.asp.

35 Lev Manovich (http://www.manovich.net) ist Medientheoretiker und lehrt an der University of California, San Diego.

36 Manovich 2001.

37 Deleuze/Guattari 1977, S. 11f.

38 Weber 2001, S. 98.

39 Bertsch/Bidner/Feuerstein/Trawöger (Hg.) 1997, S. 13.

40 Baecker 2002, S. 100.

41 Deleuze/Guattari 1977, S. 21.

42 Nicolas Bourriaud (Jhg. 1965) ist Kurator und Kunstkritiker sowie Mitgründer und Co-Direktor des Palais de Tokyo in Paris.

43 Bourriaud 1995, S. 53.

44 Stefan Weber (Jhg. 1970) ist Medienepistemologe mit den Forschungsschwerpunkten Medienphilosophie und Konstruktivismus.

45 Weber 2001, S. 91.

46 Schmücker 1998.

47 Kleimann/Schmücker (Hg.) 2001.

48 Weber (Hg.) 1999, S. 11.

49 Niklas Luhmann (1927-1998) gilt als deutscher Vertreter und Begründer der Systemtheorie, dessen Theorie über Kommunikation und funktionale Systeme in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen rezipiert wird. Luhmann war von 1968 bis 1993 Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld.

50 Luhmann 1990, S. 521.

51 Wolfgang Kemp (Jhg. 1946) lehrt Kunstgeschichte in Hamburg.

52 Kemp 1991, S. 92.

53 Zum Gründungsakt der Kunstgeschichte, der bereits mit der eingreifenden zerstörenden Einwirkung in die Kontexte verbunden ist, vgl. Kemp 1991, S. 90.

54 Kemp 1991, S. 90.

55 Zu O'Dohertys These der Fokusveränderung durch die Jahrhunderte, von der Betrachtung des Gegenstandes im 19. Jahrhundert zur Betrachtung dessen Grenzen im 20. Jahrhundert in Absicht deren Expansion, mit dem Ergebnis der Betrachtung der Dimension des Raumes vgl. O'Doherty 1996, S. 16. Heute sei Raum ein undifferenziertes Potential: "Raum ist nun nicht mehr die Dimension, in der etwas passiert, sondern das was passiert, macht den Raum aus." O'Doherty 1996, S. 39.

56 Vgl. Foucaults These von der aktuellen Epoche des Raumes im Anschluss an die vorherige Epoche der Geschichte von 1967: "Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander." Foucault führt fort: "Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte knüpft und sein Gewirr durchkreuzt." Foucault 1990, S. 34. Vgl. ebenfalls Defert 1997.

57 Kemp 1991, S. 92.

58 Ich verweise chronologisch u.a. auf: Luhmann 1987, Baecker 1990, Baecker 1994, Luhmann 1994, Luhmann1996, Luhmann 1997 a, Luhmann 1997 b, Luhmann 2002, Baecker 2002.

59 Zu dem von Heinz von Foerster (1911-2002) erarbeiteten Konzept der sog. Kybernetik zweiter Ordung (Second-Order Cybernetics), bei dessen Wechsel von der Beobachtung des außerhalb Liegenden zur Beobachtung des Beobachtens sich um eine epistemologische Wendung handele, vgl. Foerster 1993, S. 65f. Luhmann setzt hierauf seine Untersuchungen zur "Weltenwende" durch die Beobachtung zweiter Ordnung auf. Zu aktuellen Erscheinungsweisen des Denkens zweiter Ordnung in Kybernetik, Linguistik, Soziologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Biologie und Physik vgl. Baecker 1994, S. 81f. Vgl. außerdem Baecker 2003 c, S. 70f.

60 Luhmann 1996, S. 147.

61 Luhmann 1996, S. 104. Luhmann 1994, S. 104.

62 Baecker 2002, S. 36.

63 Baecker 2002, S. 67.

64 Vgl. hierzu Jean Clams Untersuchungen der Deontologisierung in Philosophie und Sozialwissenschaften durch eine Orientierung an Differenz statt an Identität. Clam 2002.

65 Baecker 2002, S. 8.

66 Weber 2001, S. 58. Zum Überblick über mathematische, biologische, soziologische und akteurstheoretische sowie medien- und kulturphilosophische Netzwerke und ihren zugeordneten Autoren vgl. Weber S. 62f.

67 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kapitel 4 zum Kunstsystem im Spannungsfeld von Re- und Transformation und zur Transformationsdynamik Kunst.

68 Weber 2001, S. 57f.

69 "Das Kulturprogramm definiert, was Kunst ist und lässt sich erst dadurch und danach durch jedes Kunstwerk in seiner Geltung bestätigen." Schmidt 1999, S. 38.

70 "Ein System 'ist' die Differenz zwischen System und Umwelt." Luhmann 2002, S. 66. S = ƒ(S, U), das System S ist eine Funktion seiner selbst S und seiner Umwelt U und wird als Unterschied definiert, den es zwischen sich und seiner Umwelt macht. Baecker 2002, S. 85f. Vgl. ebenfalls Spencer Browns Formbegriff der Differenz durch Distinktion von 1969 in Spencer Brown 1997.

71 Henri Poincaré (1854-1912) zeigte 1892 erstmals, dass bei einem nichtlinearen Mehrkörperproblem n ≥ 3, etwa dreier Planeten, chaotisch instabile Bahnen auftreten können, die empfindlich von ihren Ausgangswerten abhängen und langfristig nicht vorausberechenbar sind. Er formulierte hiermit nicht die prinzipielle Unlösbarkeit des nichtlinearen Mehrkörperproblems oder das Ende der Idee der Messbarkeit, sondern bewies, dass diese Aufgabe mit einer üblichen Methode nicht lösbar sei. Über das Mehrkörperproblem erfolgte bei Poincaré der Einstieg in die Komplexität nichtlinearer und chaotischer Dynamik.

72 Baecker 1994, S. 113f. "Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann." Luhmann 1987, S. 46.

73 Luhmann 1987, S. 46. Luhmann 2002, S. 173. Baecker 1994, S. 114.

74 Zu unterscheiden ist Komplexität von Kompliziertheit, die lediglich die Anzahl der Elemente in einem System quantifiziert.

75 Kemp 1991, S. 89f.

76 Luhmann 1987, S. 47.

77 William Ross Ashby (1903-1972) zeigte 1956 auf, dass die Wissenschaft bislang einfache Systeme mit wenigen Variablen untersuchte, doch gerade Gesellschaften, die durch Vielfalt von Elementen und Interdependenzen gekennzeichnet sind, sich dynamisch verhalten. Bisherige Untersuchungsmethoden wurden dieser Dynamik und der Bereitschaft zu Veränderung und Wandel nicht gerecht, so Ashby. Weiterhin weist Ashby darauf hin, dass Komplexität sich an der Anzahl der getroffenen Unterscheidungen und nicht an Größe oder materieller Menge misst. Vgl. Ashby 1956.

78 Die gleichzeitige Wechselwirkung vieler Einzelkomponenten wird mit der nichtlinearen Funktion erfasst.

79 Schmidt 1999, S. 21.

80 Vgl. Kemp 1991.

81 Baecker 1994, S. 114.

82 Baecker 1994, S. 115.

83 Baecker 1994, S. 115f.

84 Baecker 1994, S. 81.

85 Klaus Mainzer (Jhg. 1947) lehrt an der Universität Augsburg, Institut für Interdisziplinäre Informatik, Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Analytische Philosophie/Wissenschaftstheorie und ist seit 1996 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik.

86 Mainzer 1999, S. 26.

87 Die sog. Mandelbrot-Mengen - Computergrafiken, die mittels mathematischer Rückkopplungsschleifen durch etwa 30.000.000 Iterationen erzeugt werden - dienen als Beleg, geometrische Form und derweil bildliches Symbol für Chaos wegen ihrer Selbstähnlichkeit in unendlicher Tiefe.

88 Kemp 1991, S. 94.

89 Kemp 1991, S. 96.

90 Kemp 1991, S. 96.

91 Philip Galanter (http://www.philipgalanter.com) ist Künstler und lehrt an der New York University. 2001 programmierte Galanter das sog. toolkit G2, eine Generative Art generierende Software. 2001 entwickelte Galanter im Rahmen des 'Interactive Telecommunications Program' der Tisch School of the Arts an der New York University die zwei Jahre währende 'Foundation of Generative Art Systems', ein interdisziplinäres Lehrprogramm zu Theorie und Praxis der Generative Art, zu historischen Vorläufern in Minimal Art, Conceptual Art und Fluxus und zu Teilbereichen der Komplexitätsforschung (Chaos, genetischer Algorithmus, neurale Netzwerke, Fraktalität, künstliches Leben und L-Systeme). Gemeinsam mit Ellen K. Levy kuratierte Galanter 2002 die Ausstellung 'Complexity. Art and Complex Systems' am Samuel Dorsky Museum of Art der State University of New York (http://www.newpaltz.edu/museum), die 2003 an die Gallery of the Federal Reserve Board in Washington wanderte. 2003 stellte Galanter auf der 'International Conference on Generative Art' seine Theorie der Generative Art vor: 'What is Generative Art? Complexity Theory as a Context for Art Theory.' Galanter 2003. Links zu Generative Art unter http://philipgalanter.com/academics/generative_art/links/index.htm, Links zu der Generative Art Bibliographie unter http://philipgalanter.com/academics/generative_art/bibliography/index.htm.

92 Galanter 2003, Galanter 2004.

93 Galanter 2002.

94 In dem Übersichtswerk zur 'Komplexitätsforschung in Deutschland auf dem Weg ins nächste Jahrhundert' von 1999 werden physikalische, chemische, biologische, kognitive, medizinische, psychologische, soziale, ökonomische und innovative Systeme und deren fachübergreifende Modellierung komplexer Systeme herausgestellt. Vgl. Mainzer (Hg.) 1999. Ich verweise auf die Ergebnisse der Arbeit der Calouste Gulbenkian-Kommission Mitte der neunziger Jahre zur Neustrukturierung akademischer Ausbildungssysteme, die für den Abbau der Aufspaltung des Wissens in die Bereiche der Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften und die Verringerung der Distanz zwischen den Disziplinen plädieren. Wallerstein/Juma/Fox Keller/Kocka/Lecourt/Mudimbe/Mushakoji/Prigogine/Taylor/Trouillot 1996, S. 102. Zeitgleich fordert die amerikanische Kunsthistorikerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift 'October' Rosalind Krauss in ihrem Aufruf 'Der Tod der Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten', die im Zusammenhang der angelsächsischen Cultural und Visual Studies verwässerte Kunstgeschichte zu reorientieren. Vgl. Krauss 1995.

95 "Lebende Systeme sind selbsterzeugende, selbstorganisierende, selbstreferentielle und selbsterhaltende - kurz: autopoietische - Systeme." Schmidt 1987, S. 22. Zum Begriff der Autopoiesis vgl. Luhmann 2002, S. 109f. Zum Begriff der Selbstorganisation vgl. Luhmann 1997 a, S. 301, Luhmann 2002, S. 101.

96 Luhmann 1970, S. 28.

97 Heiden 1999, S. 249.

98 Weber 2001, S. 77.

99 Vgl. Gleich 2002.

100 Liebs 2001, Funck 2001.

101 Debord 1996, S. 13.

102 Die Dynamik eines komplexen Systems, d.h. die Änderung der Systemzustände in der Zeit, werden durch Differentialgleichungen wie z.B. x = ƒ(x) mit kontinuierlichen Variablen x und kontinuierlichem Zeitparameter t beschrieben.

103 Wulffen 1994 a, S. 57.

104 Holtgrewe 2001, S. 173.

105 Baecker 2002, S. 83.

106 Zu komplexen Systemen zweier Arten, die sich in der Un-/Veränderbarkeit ihrer dynamischen Struktur unterscheiden, vgl. Nakamura/Mori 1999, S. 89f.

107 Vgl. Prigogine 1984.

108 Holtgrewe 2001, S. 141.

109 Bundesamt für Kultur, Celebration-Hotels, Lista, EUnet, TEC-IT, La Claustra, Sitemapping, Pro Helvetia. http://www.etoy.com/alliances.

110 Zur Einteilung in vier Niveaus, von der linear prognostizierbaren Zukunft über ein begrenztes und später weites Spektrum möglicher Zukünfte hin zur sog. Fuzzy Future, vgl. Courtney 2001.

111 Vgl. insbesondere die Ausführungen zum Netz als ein soziales System, Huber 1999 b, zur Emergenz, Stephan 1999, zu den zehn Netzgesetzen, Gleich 2002, sowie zum Syndrom der Vernetzung, Berg 2005. Zu Webers Theorie der Cyber-Netzwerke, bestehend aus Fäden, Knoten, Netzen und Netzwerken, vgl. Weber 2001.

112 Derrida 1994.

113 Zur Analyse der Bruchstellen, um die Kontingenz vermeintlich grundlegender Annahmen und die zum Erhalt dieser Prämissen verschleierten Machtverhältnisse zu diagnostizieren, vgl. u.a. Butler 1993 a, S. 36.

114 Höller 1995, S. 112.

115 Vgl. u.a. Foerster 1993 und Baecker 2003, S. 70f.

116 Eine Übersicht über die philosophischen Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus und entsprechende Anwendungsbeispiele wie auch umfangreiche bibliographische Hinweise bietet Schmidt (Hg.) 1987.

117 Baecker 2002, S. 75f.

118 Schmidt 1987, S. 55.

119 Luhmann 1987, S. 25.

120 Luhmann 1987, S. 27. Weitere Ausführungen zur Selbstreferenz vgl. Luhmann 1984, S. 57f.

121 Thomas Wullfen (Jhg. 1954, http://www.thwulffen.de) ist Kunstkritiker und freier Ausstellungsmacher.

122 Zur Erweiterung des Fachs Kunstgeschichte um Fragestellungen und Methoden wie z.B. marxistischer, soziologischer, (post-) strukturalistischer, psychoanalytischer, feministischer oder semiotischer Ansätze seit den siebziger Jahren - zusammengefasst unter dem Terminus 'New Art History' - vgl. Halbertsma/Zijlmans (Hg.) 1994, zur Konstruktion der Disziplin Kunstgeschichte aus Regeln und Codes sowie dem Spannungsfeld bestehend aus den Faktoren Kunstwerk, Kontext, Zeit und Wissenschaftler vgl. Halbertsma/Zijlmans 1994.

123 Wulffen 1994 a, S. 53.

124 Wulffen 1994 a, S. 54. Wulffens Unterscheidung hinsichtlich kunstproduzierender und -theoretischer Betrachtungen soll hier keine fortgesetzte Anwendung finden, vielmehr verweise ich auf die non-dualistische Einsicht radikalisierender konstruktivistischer Positionen, dass jede Beschreibung die Form selbst fortschreibt, und verzichte auf den Dualismus von Beschreibung und Objekt.

125 Wulffen 1994 b, S. 214f.

126 Wulffen kennzeichnet die Entwicklung des Flaschentrockners durch Marcel Duchamp im Jahr 1914 als Einführungsakt der Selbstreferenz. Wulffen 1994 a, S. 53. Vgl. ebenso Meinhardts Analysen von zwei parallel stattfindenden Typen selbstreferentieller Untersuchungen, zum einen die der immanenten Selbstreflexion der Malerei und deren Erforschung der ästhetischen Bedingungen der Produktion und Organisation von Bildlichkeit, zum anderen die Untersuchung der institutionellen und gesellschaftlichen Konstituierung von Kunst. Meinhardt 1993.

127 Zu Konturen einer Geschichte der Kontext-Kunst vgl. Weibel 1994, S. 37f.

128 Ich verweise u.a. auf die Debatten seit 1976 in der amerikanischen Zeitschrift 'October' und exemplarisch auf die deutschsprachige Produktion und Rezeption dieser Aktivitäten ab 1990 in 'Texte zur Kunst' (http://www.textezurkunst.de).

129 Zu künstlerisch-politischen Praktiken in den neunziger Jahren im deutschsprachigen Bereich sowie zu Profilveränderungen des Kunstfeldes, die in den neunziger Jahren dessen 'Re-politisierung' begünstigten und u.a. aus einem Begründungsnotstand des Kunstbetriebs für die Funktion des Ausstellungsbetriebs resultierten, informiert das Kompendium 'Politische Kunst Begriffe' von Kube Ventura 2002.

130 Weibel 1994, S. 57.

131 Ich erweitere Kemps Publikationsauflistung des Jahres 1967 im Zeichen der Rezeptionsästhetik (Kemp 1996, S. 32) zugunsten des inhaltlichen Schwerpunkts meiner Untersuchungen um Jacques Derrida, 'L'écriture et la différence' (1967), Jacques Derrida, 'De la grammatologie' (1967), Marshall McLuhan/Quentin Fiore, 'The Medium is the Message, An Inventory of Effects' (1967), Michel Foucault, 'L'archéologie du savoir' (1969), Michel Foucault, 'Ariane s'est pendue' (1969) sowie um ausgewählte theoretische Positionen von Kunstproduzenten: Guy Debord, 'La Société du Spectacleé (1967), Sol LeWitt, 'Paragraphs on Conceptual Art' (1967), Sol LeWitt, 'Sentences on Conceptual Art' (1969, Abb. 11), Lawrence Weiner, 'Statements' (1968), Joseph Kosuth, 'Art after Philosophy' (1969), Victor Burgin, 'Situational Aesthetics' (1969).

132 Zu institutionskritischen Arbeiten im engeren Sinne in den fünfziger Jahren vgl. O'Doherty 1996.

133 Kemp 1991, S. 90.

134 Zu erkennbaren Differenzen der Kunstproduktionen der sechziger und siebziger Jahre, der Anerkennung des Museums- und Galerieraumes in seiner Begrenzung und dessen Einsatz als Matrix für die entwickelten Formprinzipien durch die Minimal Art sowie das Offenlegen der Funktion der weißen Wand als Kontextbegrenzung durch die Interventionen der siebziger Jahre vgl. Möntmann 2002. Vgl. ebenfalls Möntmanns Ausführungen zur Site-Specificity, der untrennbaren Verbindung des Kunstobjekts mit seinem physischen Ort.

135 O'Doherty 1996, S. 88f.

136 Brian O'Doherty, Künstler und Kunsttheoretiker, wurde 1934 in Irland geboren, lebt seit 1957 in den USA und tritt seit 1972 aus Protest gegen die britische Nordirlandpolitik als Künstler unter dem Namen Patrick Ireland auf.

137 O'Doherty publizierte 1976 die dreiteilige Essay-Serie 'Inside the White Cube: Notes on the Gallery Space' (März 1976), 'The Eye and the Spectator' (April 1976) und 'Context as Content' (November 1976) in Artforum International, im Dezember 1981 mit einem Nachsatz mit dem Titel 'Gallery as a Gesture' versehen. Die vier Texte erschienen 1986 als Buchausgabe unter dem Titel 'Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space' mit einem Nachwort von Brian O'Doherty und 1996 in deutscher Ausgabe mit einem Nachwort von Markus Brüderlin, herausgegeben von Wolfgang Kemp.

138 Ich verweise auf ausgewählte Publikationen zur Zeit des Erscheinens von O'Doherty, 'Inside the White Cube' (1976): Neben der Erstausgabe von 'October. Art, Theory, Criticism, Politics' im Frühjahr 1976, hg. v. Jeremy Gilbert-Rolfe, Rosalind Krauss und Annette Michelson, New York, sind erschienen: Gilles Deleuze und Félix Guattari, 'Rhizom' (1976), Michel Foucault, 'Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir' (1976), Jean Baudrillard, 'L'échange symbolique et la mort' (1976), Rosalind Krauss, 'Notes on the Index: Seventies Art in America' (1977), Jacques Derrida, 'La vérité en peinture' (1978), Pierre Bourdieu, 'La distinction. Critique sociale du jugement' (1979).

139 Zu offenen und geschlossenen Systemen exemplarisch am Beispiel von John Cage und Bill Gates vgl. Daniels 2003, S. 62f.

140 O’Doherty 1996, S. 88.

141 Nina Möntmann (Jhg. 1969) ist Kunsthistorikerin und Kuratorin.

142 Zur Konstruktion des sozialen Raumes durch künstlerische Praktiken, konkret des institutionellen Raumes bei Andrea Fraser, des urbanen Raumes bei Martha Rosler, des Handlungsraumes bei Renée Green und des kulturellen Raumes bei Rirkrit Tiravanija, vgl. Möntmann 2002. Zur vierfachen Differenzierung der Relation Kunst und öffentlicher Raum vgl. Oosterling 2001.

143 Kemp 1996, S. 30. Kemp weist auf die Unüberschaubarkeit der Literatur zu dieser Themenkunst hin und empfiehlt Brüderlin 1996.

144 Einen umfassenden Überblick über Ausstellungen und Projekte zwischen 1990 und 2000 bietet Kube Ventura 2002, S. 296f.

145 Zu Foucaults Definition von Institution vgl. Foucault 1978, S. 125. Ich verweise außerdem auf Bürgers Definition der Institution Kunst als "kunstproduzierenden und distribuierenden Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen". Bürger 1984, S 43f.

146 Zur Kritik am Museum und einer erweiterten Institutionenkritik vgl. u.a. Schneede (Hg.) 2000.

147 Hier sei u.a. auf Arbeiten von Hans Haacke, Luis Camnitzer, Lee Lozano, Leon Goluv, Nancy Spero, Daniel Buren, Adrian Piper, Douglas Huebler, Stephen Willats, Dan Graham, Martha Rosler und Michael Asher verwiesen sowie auf die Guerrilla Art Action Group (GAAG), deren Mitglieder auch im Kommittee der Art Worker Coalition (AWC) aktiv waren. Ad Hoc Women Artists Committee ist wiederum ein Ausläufer des AWC.

148 Peter Weibel (Jhg. 1944) ist Künstler, Kurator, Kunst- und Medientheoretiker und ist seit 1999 Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe (http://www.zkm.de).

149 Zum Begriff des sozialen Systems vgl. Luhmann 1970, S. 28.

150 Weibel 1994, S. 20. Zur Kontextualisierung der kontextualisierenden Kunstpraxis der neunziger Jahre und zur Geschichte der Kontext-Kunst als ein Kampf von Machtpositionen und Interessenskonflikten vgl. Germer 1995.

151 Weibel 1994, S. 57.

152 Weibel 1994, S. XIII. Zur Kritik an Weibels vorgenommener Terminologisierung und Theoretisierung von 'Kontext-Kunst' vgl. Kube Ventura 2002, S. 72f.

153 Kemp 1991, S. 93.

154 Kemp 1991, S. 94.

155 Derrida 1993 b.

156 Andrea Fraser (Jhg. 1965), amerikanische Künstlerin und Mitglied der V-Girls, lebt und arbeitet in New York und Europa und realisiert seit Mitte der achtziger Jahre Ausstellungen, Performances und Installationen.

157 Fraser 1995, S. 35.

158 Zur Kulturdefinition Frasers erstens als symbolische Systeme, die für die Integration und Reproduktion von Gruppen verantwortlich sind, und zweitens als Erwerb von Kompetenzen und Dispositionen, die sich auf eben jene symbolische Systeme beziehen, vgl. Fraser 1995, S. 36.

159 Zu Frasers terminologischer Anlehnung an Pierre Bourdieus Konzeption des Feldes als ein Raum der Kräftebeziehungen, der zugleich immer auch ein Kampffeld und Ort von Auseinandersetzungen ist, vgl. Fraser 1995, S. 38f. Ebenso Bourdieu 2001. Der Begriff des Feldes ist ferner bei dem Soziologen Tony Bennett zu finden. Bennett bezeichnet ein kulturelles Feld als eine Menge von strukturellen Beziehungen, welche die Positionen von verschiedenen Formen kultureller Praxis über ihre wechselseitigen Beziehungen definieren, die einem zeitliche Wandel unterliegen. Bennett 1979, S. 166f.

160 Fraser 1995, S. 38.

161 Fraser 1995, S. 38.

162 "Paradigmenwechsel müssen als kontextkonstitutiv verstanden werden, weil sie ihren eigenen Kontext, in dem sie Bedeutung erlangen, erst erschaffen." Wulffen 1994 a, S. 55. Zur Definition des Paradigmas und des Paradigmenwechsels vgl. Kuhn 1981.

163 Fraser 1995, S. 35.

164 "Ich tendiere dazu, Kunst-Phänomene, die sich nicht in diesen Geschichtsablauf einführen, für regressiv oder reaktionär zu halten." Fraser 1995, S. 35.

165 Lucy R. Lippard (Jhg. 1954) ist Kunstkritikerin und -theoretikerin, Autorin und politische Aktivistin.

166 Lippard 1997, S. vii.

167 Lippard 1997, S. vii, S. 6.

168 Lippard 1997, S. vii.

169 Lippard 1997, S. 258.

170 Henk Oosterling (Jhg. 1952, http://www.henkoosterling.nl) lehrt Philosophie an der Erasmus-Universität Rotterdam und ist Mitgründer und Koordinator des Centrum voor Filosofie Kunst / Center for Philosophy & Arts (CFK).

171 "On closer inspection 'art works' turns out to be a reflexive verb before petrifying into a noun: art works." Oosterling 2001.

172 Bourriaud veröffentlichte seine Theorie im französischen Magazin Documents sur l'art: 'Pour une esthétique relationelle I', printemps 1995, nº 7, p. 88-99; 'Pour une esthétique relationelle II', printemps 1996, nº 8, p. 40-47. Als Buchausgabe Bourriaud 1998.

173 Bourriaud 2002.

174 "Die Welt hat ihre Hauptwurzel verloren." Deleuze/Guattari 1977, S. 10.

175 Deleuze und Guattari greifen für ihre Ausführungen auf den Begriff der Botanik zurück: "Rhizom [gr.] (Wurzelstock, Erdspross), unterirdisch oder dicht unter der Bodenoberfläche waagerecht oder senkrecht wachsende, mehr oder minder verdickte, Nährstoffe speichernde (jedoch nicht zur Assimilation befähigte), ausdauernde Sprossachse vieler Stauden [...]; mit sprossbürtigen Wurzeln, farblosen Niederblättern und Knospen; letztere dienen einerseits dem Weiterwachsen des Rhizoms selbst, zum Teil der Ausbildung der meist einjährigen Laub- und Blütentriebe. Rhizome wachsen (während mehrerer Vegetationsperioden) an der Spitze unbegrenzt weiter, die älteren Teile sterben allmählich ab. [...]" Meyers Lexikonredaktion (Hg.) 1987: Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 18, S. 237f.

176 Bourriaud 2002.

177 Foucault 1990, S. 34.

178 Foucault 1977 in Bezug auf Deleuze 1972.

179 Foucault 1977, S. 11.